Die
Rosenkreuzer-Weltanschauung

von Max Heindel




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Die Hypophyse (Hirnanhang) und die Epiphyse (Zirbeldrüse)

   Im Gehirn, ungefähr an der in Diagramm 17 bezeichneten Stelle, befinden sich zwei kleine Organe, welche Hypophyse und Epihyse genannt werden. Die medizinische Wissenschaft weiß von ihnen und anderen Drüsen mit innerer Sekretion nur wenig (Stand 1909). Sie nennt die Epiphyse (Zirbeldrüse) das "verkümmerte dritte Auge". Doch weder sie noch die Hypophyse (Hirnanhang) verkümmern. Dies ist sehr verwirrend für die Wissenschaftler, denn die Natur behält nichts Überflüssiges zurück. Im ganzen Körper finden wir Organe, die entweder verkümmern oder sich entwickeln, und die ersteren sind sozusagen Meilensteine längs des Pfades, den der Mensch durchwandert hat, um seine gegenwärtige Entwicklungsstufe zu erreichen, während die letzteren die Richtlinien der künftigen Verbesserungen und Entwicklungen angeben. So sind zum Beispiel die Muskeln, welche die Tiere verwenden, um ihre Ohren zu bewegen, auch beim Menschen vorhanden, aber da sie verkümmern, können wenige Menschen sie gebrauchen. Das Herz gehört zu der Gruppe, die weitere Entwicklung anzeigt; wie schon gesagt wurde, wird es einst ein willkürlicher Muskel werden.

   Die Zirbeldrüse und der Hirnanhang gehören noch einer anderen Klasse von Organen an, die jetzt weder verkümmern noch sich entwickeln, sondern schlafend sind. In ferner Vergangenheit, als der Mensch noch mit den inneren Welten in Berührung lebte, waren diese Organe auch Mittel zu deren Zutritt, und sie werden in einem späteren Zustand wieder diesem Zweck dienen. Sie standen in Verbindung mit dem unwillkürlichen oder sympathischen Nervensystem. Der Mensch sah die inneren Welten in der Mondperiode, im letzten Teil der lemurischen Epoche und zu Beginn der atlantischen Epoche. Die Bilder stellten sich ganz unabhängig vom Willen ein. Die Sinneszentren seines Empfindungsleibes drehten sich dem Zeiger der Uhr entgegen (negativ, der Erdbewegung folgend, die sich in dieser Richtung um

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ihre Achse dreht) wie die Sinneszentren der "Medien" (negativ, passiv-empfangend) bis zu unseren Tagen. Bei den meisten Menschen sind diese Sinneszentren untätig, aber eine richtige Entwicklung wird sie zur Bewegung in Richtung des Uhrzeigers bringen, wie an anderer Stelle erklärt wurde. Darin besteht die Schwierigkeit in der Entwicklung positiver (aktiv-dynamischer) Hellsichtigkeit.

   Die Entwicklung der Mediumschaft ist viel leichter, weil sie nur ein Wiederaufleben der spiegelgleichen Tätigkeit ist, die der Mensch in ferner Vergangenheit besaß. Durch sie strahlte die Außenwelt unwillkürlich in ihn zurück, nachher wurde sie durch Inzucht zurückbehalten. Bei den gegenwärtigen Medien ist diese Kraft nicht konstant, was auch erklärt, warum sie manchmal "sehen" können und zu anderen Zeiten ohne einen Grund gänzlich versagen. Manchmal befähigt sie der starke Wunsch des Ratsuchenden, mit den Informationen in Berührung zu kommen, die er sucht. In solchen Fällen sehen sie richtig. Sie sind jedoch nicht immer ehrlich. Die Miete und andere Auslagen müssen bezahlt werden, und wenn ihnen die Kraft (über die sie keine bewußte Gewalt haben) versagt, greifen manche zum Betrug und äußern irgendeine ihnen einfallende Ungereimtheit, damit sie ihre Kunden zufriedenstellen und das Geld erhalten. So bringen sie das in Mißkredit, was sie zu anderer Zeit wirklich schauen.

   Wer nach wahrer spiritueller Sicht und Einsicht strebt, muß vor allem den Beweis seiner Selbstlosigkeit erbringen, denn der geübte Hellseher hat keine Tage "des Mißlingens". Er ist nicht im mindesten wie ein Spiegel, der von den Bildern abhängt, die in seinen Weg kommen. Er ist fähig, zu jeder beliebigen Zeit in jeder Richtung zu forschen und die Gedanken und Pläne anderer zu lesen, vorausgesetzt, daß er seine Aufmerksamkeit speziell auf diesen Weg richtet, sonst nicht.

   Die große Gefahr, die für die Gesellschaft aus dem unverantwortlichen Gebrauch dieser Kraft durch einen unwürdigen Menschen entstehen würde, kann leicht begriffen werden. Er würde fähig sein, die geheimsten Gedanken anderer zu lesen.

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Diagramm 17: Der Weg der ungebrauchten Geschlechtsströme

  

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   Der Eingeweihte ist daher durch die feierlichsten Eide verpflichtet, niemals seine Macht zu benutzen, um seinen persönlichen Interessen zu dienen oder sich einen Schmerz zu ersparen. Er darf fünftausend andere sättigen, wenn er will, er darf aber keinen einzigen Stein in Brot verwandeln, um seinen eigenen Hunger zu stillen. Er kann andere von Lähmung und Aussatz heilen, durch die Gesetze des Universums ist es ihm aber verboten, seine eigenen tödlichen Wunden zu schließen. Weil er durch ein Gelübde vollkommener Selbstlosigkeit gebunden ist, gilt es für alle Zeit, daß der Eingeweihte, obschon er andere rettet, sich selbst nicht retten kann.

   Der geschulte Hellseher, der wirklich etwas zu geben vermag, wird nie ein Aushängeschild anbringen, auf dem er seine Dienste gegen Vergütung anbietet, er wird aber mit offener Hand immer wieder geben, wenn es im Einvernehmen mit reifem Schicksal geschehen kann, das von dem Hilfesuchenden unter dem Gesetz der Ursache und Wirkung geschaffen wurde.

   Geübtes Hellsehen wird für die Erforschung okkulter Tatsachen verwendet, und sie ist die einzige Art, die zu diesem Zweck von irgendeinem Nutzen ist. Darum darf der Strebende keinen Wunsch empfinden, eine müßige Neugierde zu befriedigen, sondern eine heilige und selbstlose Bereitschaft, der Menschheit zu helfen. Ehe nicht dieser Wunsch besteht, kann kein wirklicher Fortschritt auf dem Gebiet des bewußten Hellsehens erzielt werden.

   In den Zeitaltern, die seit der lemurischen Epoche verflossen sind, hat die Menschheit allmählich das zerebrospinale Nervensystem erbaut, das unter der Herrschaft des Willens steht. In der späteren, atlantischen Epoche, hat sich dieses soweit entwickelt, daß es dem Ego möglich wurde, den dichten Körper voll in Besitz zu nehmen. Das geschah zu der Zeit, als der Punkt des Lebensleibes in Verbindung mit dem Punkt an der Nasenwurzel des dichten Körpers kam (wie früher beschrieben). Der innewohnende Geist erwachte für die physische Welt, doch ging dafür das Bewußtsein der inneren Welten bei der Mehrheit der Menschen verloren.

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   Seit dieser Zeit ist die Verbindung zwischen Epiphyse (Zirbeldrüse) einerseits und der Hypophyse (Hirnanhang) andererseits mit dem zerebrospinalen Nervensystem langsam erbaut worden und ist jetzt beinahe vollständig.

   Um die Verbindung mit den inneren Welten wiederzugewinnen, müssen lediglich die Epiphyse und die Hypophyse wiedererweckt werden. Wenn das vollzogen ist, wird der Mensch wieder die Fähigkeit der Wahrnehmung in den höheren Welten besitzen, jedoch in einem größeren Ausmaß als vorher, weil sie in Verbindung mit dem willkürlichen Nervensystem und daher unter der Herrschaft des Willens stehen wird. Durch diese innere Wahrnehmungsfähigkeit werden ihm alle Wege zum Wissen eröffnet sein. Er wird über ein Mittel zur Erlangung von Erkenntnissen verfügen, mit dem verglichen alle anderen Forschungsmethoden nur ein Kinderspiel sind.

   Die Erweckung dieser Organe wird durch esoterische Erziehung vollzogen, wie wir sie anschließend beschreiben wollen, soweit es öffentlich geschehen kann.

Esoterische Erziehung

   Bei der Mehrzahl der Menschen wird der größere Teil der Geschlechtskraft, die rechtmäßigerweise durch die schöpferischen Organe verwendet werden sollte, zur Befriedigung der Sinne ausgegeben. Darum ist in solchen Menschen sehr wenig vom aufsteigenden Strom zu finden, der in Diagramm 17 gezeigt wird.

   Wenn der Aspirant beginnt, diese Ausschweifungen mehr und mehr zu beschränken und seine Aufmerksamkeit geistigen Gedanken und Bemühungen zuzuwenden, kann der geübte Hellseher bemerken, wie die ungebrauchte Geschlechtskraft aufzusteigen beginnt. Sie strömt auf dem durch den Pfeil in Diagramm 17 angezeigten Weg in zunehmend größerem Umfang aufwärts, durchquert das Herz und den Kehlkopf oder das Rückenmark und den Kehlkopf oder beide

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und geht dann geradewegs zwischen der Hypophyse und der Epiphyse zu dem dunklen Punkt an der Nasenwurzel, wo "der stille Wächter", der höchste Geist, seinen Sitz hat.

   Diese Ströme nehmen gewöhnlich nicht einen der beiden in Diagramm 17 angezeigten Wege unter völligem Ausschluß des anderen, sondern normalerweise wird vom größeren Teil der Geschlechtsströme ein Weg eingeschlagen, der dem Charakter des Strebenden entspricht. Bei jemandem, der Erleuchtung auf rein intellektuellem Wege sucht, führt der Geschlechtsstrom hauptsächlich über das Rückenmark und nur ein kleiner Teil nimmt den Weg über das Herz. Beim Mystiker, der mehr fühlt als weiß, steigt der Strom durch das Herz. Beide entwickeln sich anormal, und jeder muß eines Tages die Entwicklung aufnehmen, die er vernachlässigte, um eine völlige Abrundung zu erlangen. Darum ist das Ziel des Rosenkreuzers, solche Lehren zu geben, durch die beide Gruppen befriedigt werden, obwohl seine Hauptanstrengung darauf gerichtet ist, den intellektuell Veranlagten zu erreichen, denn er ist der Bedürftigere von beiden.

   Der Strom an sich, und wenn er die Ausdehnung des Niagara erreichen und bis zum jüngsten Tag fließen würde, ist nutzlos. Und doch muß er, da er nicht nur eine notwendige Begleiterscheinung, sondern eine Vorbedingung zu selbstbewußter Arbeit in den inneren Welten ist, in gewissem Maß gepflegt werden, ehe die richtige esoterische Übung beginnen kann. Daraus kann man sehen, daß der Aspirant eine gewisse Zeit hindurch ein moralisches, den geistigen Gedanken geweihtes Leben führen muß, ehe es möglich ist, die Arbeit zu beginnen, die ihm Kenntnisse über die überphysischen Welten aus erster Hand vermittelt und ihn befähigt, ein Helfer der Menschheit zu werden.

   Wenn der Kandidat ein solches Leben eine Zeit lang geführt hat, die genügt, daß der Strom geistiger Kraft hergestellt werden kann und er für würdig und befähigt erachtet wird, esoterische Belehrungen zu empfangen, so werden ihm gewisse Übungen gelehrt, um den Hirnanhang

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(Hypophyse) in Schwingung zu versetzen. Diese Schwingung veranlaßt die Hypophyse, auf die nächste Kraftlinie (Diagramm 17) einzuwirken und sie leicht abzulenken. Das wirkt wieder auf die von ihr aus nächste Kraftlinie, und dieser Vorgang setzt sich fort, bis die Kraft der Schwingungen ausgegeben ist. Es ist dies ein ähnlicher Vorgang wie beim Anschlagen einer Saite auf dem Klavier, bei dem eine ganze Reihe von Obertönen entstehen, indem die Schwingungen auf andere Saiten übertragen werden, die in den richtigen Höhenintervallen stehen.

   Wenn durch die erhöhte Schwingung des Hirnanhangs (Hypophyse) die Kraftlinien genügend abgelenkt wurden, um zur Zirbeldrüse (Epihphyse) zu gelangen, ist das Ziel erreicht und die Kluft zwischen beiden Organen ist überbrückt. Das ist die Brücke zwischen Sinnenwelt und Empfindungswelt. Von dieser Zeit an wird der Mensch hellsehend und kann seinen Blick richten, wohin er will. Feste Gegenstände werden sowohl von innen als auch von außen gesehen. Für ihn haben Raum und Dichtigkeit als Hindernisse der Beobachtung zu bestehen aufgehört.

   Er ist noch kein geübter Hellseher, er ist aber ein Hellseher nach eigenem Willen, ein willkürlicher Hellseher. Das ist eine von der des Mediums sehr verschiedene Fähigkeit, denn das Medium wird gewöhnlich als unwillkürlicher Hellseher benützt und kann nur das sehen, was gerade kommt, oder es hat im besten Fall nur wenig mehr als diese rein negative Fähigkeit. Jener Mensch aber, bei dem diese Brücke einmal erbaut ist, steht immer in sicherer Berührung mit den inneren Welten und kann die Verbindung herstellen oder abbrechen, wie er will. Mit der Zeit lernt der Beobachter die Schwingungen der Hypophyse (Hirnanhang) in einer solchen Weise zu beherrschen, die ihn befähigt, mit jeder beliebigen Region der inneren Welten in Berührung zu kommen, die er zu besuchen wünscht. Diese Fähigkeit steht vollständig unter der Herrschaft des Willens. Er muß durchaus nicht in einen Trancezustand kommen oder etwas Außergewöhnliches tun, um sein Bewußtsein zur Empfindungswelt zu erheben. Sondern ganz einfach: er will sehen und sieht.

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   Wie bereits erklärt wurde, muß der Neophyt (Neuling) lernen, in der Empfindungswelt zu sehen, oder besser gesagt, er muß lernen zu verstehen, was er dort sieht. In der physischen Welt sind die Gegenstände dicht, fest und verändern sich nicht in einem Augenblick. In der Empfindungswelt verändern sie sich auf die verwirrendste Art und Weise. Das ist eine Quelle endloser Irrtümer für den negativ, unwillkürlich Hellsehenden; ja selbst für den Neophyten (Neuling), der unter der Leitung eines Lehrers hier eintritt. Der Unterricht aber bringt den Schüler bald auf einen Punkt, an dem die Form wechseln kann, so oft sie will, er kann das Leben wahrnehmen, das den Wechsel hervorruft, und es als das erkennen, was es ist, trotz allen erdenklichen verwirrenden Änderungen.

   Nun noch ein anderer wichtiger Unterschied. Die Kraft, die einen befähigt, die Gegenstände in einer Welt wahrzunehmen, ist nicht dieselbe Kraft, mit der man in diese Welt eindringen kann und dort zu handeln vermag. Der willkürliche Hellseher kann wohl einige Übung erlangen. Er kann in der Empfindungswelt das Wahre vom Falschen unterscheiden, doch steht er ihr in Wahrheit so gegenüber, wie sich ein Gefangener der Außenwelt hinter Gitterstäben gegenüber sieht. Er kann sie sehen, kann aber nicht darin handeln. Darum öffnet die okkulte Erziehung nicht nur das innere Auge des Aspiranten für die höheren Welten, sondern es werden zu rechter Zeit weitere Übungen gegeben, um ihn mit einem Träger zu versehen, mit dem er in den inneren Welten in einer vollständig selbstbewußten Weise handeln kann.

Wie man den inneren Träger erbaut

   Im gewöhnlichen Leben sind die Menschen da, um zu essen, zu trinken, uneingeschränkt ihre geschlechtlichen Leidenschaften zu befriedigen und sie verlieren bei der geringsten Ursache ihre Fassung. Obwohl diese Menschen äußerlich sehr "ehrbar" sein mögen, so bringen sie beinahe täglich vollständige Verwirrung in ihren Organismus. Die

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ganze Schlafenszeit wird vom Empfindungs- und Lebensleib benötigt, um den Schaden, der während des Tages entstanden ist, wiedergutzumachen. Für zusätzliche Arbeiten irgendeiner Art verbleibt keine weitere Zeit mehr. Indem aber der Mensch beginnt, das Bedürfnis nach einem höheren geistigen Leben zu empfinden, die Geschlechtskraft und das Temperament beherrscht und eine heitere Gemütslage pflegt, findet während des Wachseins in seinen Trägern weniger Zerstörung statt. Folgerichtig wird auch während des Schlafes weniger Zeit verbraucht, um den Schaden wiedergutzumachen. So wird es möglich, den dichten Körper während des Schlafes auf längere Zeit zu verlassen, um in den inneren Welten, in den höheren Trägern zu handeln. Da der Empfindungsleib und der Intellekt noch nicht voll entwickelt sind, sind sie als selbständige Bewußtseinsträger nicht zu gebrauchen. Auch kann der Lebensleib den dichten Körper nicht verlassen, da dies den Tod hervorrufen würde. Daher mußten Maßnahmen ergriffen werden, um einen organisierten, beweglichen Träger zur Verfügung zu stellen, der leicht beweglich und derart beschaffen ist, daß er den Bedürfnissen des Ego in den inneren Welten entspricht, so wie der dichte Körper den Anforderungen der physischen Welt angepaßt ist.

   Ein solch organisierter Träger ist der Lebensleib, und wenn man eine Möglichkeit finden könnte, ihn vom dichten Körper zu lösen, ohne den Tod zu verursachen, so wäre das Problem gelöst. Außerdem ist der Lebensleib der Sitz des Gedächtnisses. Und ohne Gedächtnis wäre es unmöglich, die Erinnerung an überphysische Erfahrungen in unser physisches Bewußtsein zurückzubringen, um so deren vollen Segen zu erfahren.

   Wir erinnern uns, daß die Hierophanten der alten Mysterientempel einen Teil des Volkes in Kasten und Stämme einteilten, um auf diese Weise Körper vorzubereiten, die sich für den Gebrauch solcher Ego, die sich zur Einweihung eigneten, verwenden ließen. Das geschah, wie beim Empfindungsleib der gesamten Menschheit zu Beginn der Erdperiode, durch Zweiteilung des Lebensleibes. Wenn der Hierophant die Schüler aus ihren Körpern herausnahm, ließ er einen Teil zurück, der den ersten (chemischen) und

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zweiten (Lebens-) Äther einschloß. Dieser verrichtet die rein tierischen Funktionen (sie sind die einzig aktiven während des Schlafes). Auf diese Weise nahm der Schüler einen wahrnehmungs- und erinnerungsfähigen Träger durch seine Verbindung mit den Sinneszentren des dichten Körpers mit. Dieser Träger besaß die Fähigkeit, das Gedächtnis zu beherrschen, denn er war aus dem Licht- und rückstrahlenden Äther zusammengesetzt, die die Vermittler der Sinneseindrücke und des Gedächtnisses sind. Und das ist auch der Teil des Lebensleibes, den der Strebende von Leben zu Leben zurückbehält, und der als Verstandesseele unsterblich wird.

   Seit Christus kam und "die Sünden der Welt hinwegnahm", (nicht die des Individuums) und den Empfindungsleib unseres Planeten reinigte, ist die Verbindung zwischen allen dichten menschlichen Körpern und Lebensleibern in einem solchen Maß gelockert worden, daß es nun durch Schulung möglich ist, die beschriebene Teilung vorzunehmen. Deshalb steht nun die Einweihung allen offen.

   Der feinere Teil des Empfindungsleibes, der die Empfindungsseele bildet, kann bei den meisten Menschen getrennt werden (das war sogar vor der Ankunft Christi tatsächlich der Fall). Wenn die feineren Teile der Träger während des Schlafes oder zu einer beliebigen anderen Zeit durch Konzentration und Anwendung einer besonderen Formel für den Gebrauch abgesondert wurden, sind dennoch die niederen Teile des Empfindungs- und Lebensleibes zurückgeblieben. Sie setzen in dem lediglich tierischen Teil des dichten Trägers den Wiederherstellungsprozeß fort.

   Wie wir gesehen haben, ist der Teil des Lebensleibes, der sich vom dichten Körper scheidet, hoch organisiert. Er ist ein genaues Ebenbild des dichten Körpers. Der Empfindungsleib und der Intellekt, die noch keine Organe besitzen, sind nur zu gebrauchen, solange sie mit dem hochorganisierten dichten Körper verbunden sind. Wenn sie von ihm getrennt werden, sind sie nur armselige Werkzeuge. Daher müssen,

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ehe der Mensch sich aus dem dichten Körper zurückziehen kann, die Sinneszentren des Empfindungsleibes geweckt sein.

   Im gewöhnlichen Leben befindet sich das Ego innerhalb seiner Träger, und seine Kraft richtet sich nach außen. Der ganze Wille und die ganze Energie des Menschen sind darauf gerichtet, sich die physische Welt zu unterwerfen. Er ist unfähig, sich von den Eindrücken seiner äußeren Umgebung zu befreien und so die Freiheit zu gewinnen, um in seinen wachen Stunden an sich zu arbeiten. Während des Schlafes, wo sich eine solche Gelegenheit bietet, weil der dichte Körper das Bewußtsein der Welt verloren hat, befindet sich das Ego außerhalb seiner Körper. Wenn der Mensch überhaupt an seinen Trägern arbeiten soll, so muß es dann geschehen, wenn ihm die Außenwelt wie im Schlaf verschlossen ist, der Geist aber dennoch innerhalb der Träger bleibt und wie im wachen Zustand volle Herrschaft über seine Fähigkeiten hat. Ehe nicht dieser Zustand erreicht ist, ist es dem Geist unmöglich, innerlich zu arbeiten und seine Träger gebührend sensitiv zu stimmen.

   Die Konzentration ist solch ein Zustand. Bei ihr sind die Sinne beruhigt, der Mensch befindet sich äußerlich in demselben Zustand wie im tiefsten Schlaf, und doch bleibt der Geist vollbewußt im Körper. Die meisten Menschen haben diesen Zustand wenigstens in gewissem Maße erfahren, nachdem sie von einem Buch vollständig gefesselt wurden. Sie leben dann in den Schilderungen des Verfassers und sind für ihre Umgebung verloren. Wenn man sie anspricht, reagieren sie nicht. Sie sind sowohl für Geräusche als auch für Vorgänge in ihrer Umgebung ganz unempfänglich. Und doch sind sie für alles, was sie lesen, vollkommen wach. Sie leben in der unsichtbaren Welt, die der Verfasser geschaffen hat, und empfinden den Herzschlag der verschiedenen Charaktere des Werkes; doch sind sie nicht frei, sondern an das Leben gebunden, das ihnen irgendjemand durch das Buch schuf.

   Der Aspirant des höheren Lebens pflegt die Fähigkeit, willentlich von einem beliebigen selbstgewählten Gegenstand, dem er sich zuwendet, aufgesogen zu werden oder

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besser gesagt, von keinem üblichen Gegenstand, sondern von der Vorstellung eines einfachen Dinges, die er sich bildet. Wenn nun der richtige Zustand oder Punkt des Aufgehens (in dem Ding) erreicht worden ist, wo seine Sinne vollkommen ruhig sind, konzentriert er seine Gedanken auf die verschiedenen Sinneszentren seines Empfindungsleibes, und sie beginnen sich zu drehen.

   Zuerst ist ihre Bewegung langsam und schwer hervorzubringen, aber stufenweise schaffen sich die Sinneszentren des Empfindungsleibes im dichten Körper und im Lebensleib Raum und lernen, sich dieser neuen Tätigkeit anzupassen. Wenn dann eines Tages das reine Leben die erforderliche Lockerung zwischen dem höheren und dem niederen Teil des Lebensleibes entwickelt hat, setzt eine außerordentliche Willensanstrengung ein. Es findet eine spiralförmige Bewegung nach verschiedenen Richtungen hin statt, und der Aspirant steht außerhalb seines dichten Körpers. Er sieht ihn dann an wie eine andere Person. Die Tür seines Gefängnisses hat sich geöffnet. Er hat Freiheit, zu kommen und zu gehen, und kann sich gleich frei in den inneren Welten wie in der physischen Welt bewegen, um nach seinem Willen in ihnen zu handeln und all denen ein Helfer zu sein, die in einer dieser Welten seine Dienste wünschen.

   Ehe der Strebende es lernt, seinen Körper willkürlich zu verlassen, kann er während des Schlafes in seinem Empfindungsleib gearbeitet haben, denn bei manchen Menschen organisiert sich der Empfindungsleib, ehe die Trennung im Lebensleib stattfinden kann. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, subjektive Erfahrungen dem Wachbewußtsein zu übertragen. Im allgemeinen jedoch wird man in solchen Fällen als erstes Zeichen merken, daß alle verworrenen Träume aufhören. Dann, nach einer Weile, werden die Träume lebhafter und vollkommen logisch. Der Strebende wird träumen, daß er an Orten und mit Menschen (seien sie nun im Wachzustand mit ihm bekannt oder nicht) zusammen ist, die sich so vernünftig betragen, als wenn er wach wäre. Wenn ihm der Ort, von dem er träumte, zugänglich ist, wird es ihm im Wachzustand manchmal möglich sein, Beweise

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für die Richtigkeit seines Traumes zu finden, wenn er sich irgendeine physische Einzelheit der Szene merkt und seine nächtlichen Eindrücke am nächsten Tag prüft.

   Er wird zunächst finden, daß er während des Schlafes irgendeinen beliebigen Ort der Erde besuchen kann und fähig ist, ihn viel eingehender zu durchforschen, als wenn er in seinem dichten Körper dort eingedrungen wäre, weil er in seinem Empfindungsleib zu allen Orten Zutritt hat, ohne Rücksicht auf Schlösser und Riegel. Wenn er beharrt, so kommt endlich der Tag, wo er nicht auf den Schlaf zu warten braucht, um die Verbindung zwischen seinen Trägern zu lösen, sondern sich bewußt freimachen kann.

   Besondere Anleitungen zur Befreiung der höheren Träger können nicht unterschiedslos gegeben werden. Die Trennung erfolgt durch keine feste Formel in Worten, sondern eher durch einen Willensakt, und doch ist die Art und Weise, in welcher der Wille gelenkt wird, individuell und kann nur durch einen berufenen Lehrer gegeben werden. Wie alle anderen esoterischen Belehrungen wird sie niemals verkauft, sie kann nur dem gegeben werden, der sich dazu eignet. Alles, was an dieser Stelle geschehen kann, ist auf die ersten Schritte hinzuweisen, durch die der Schüler die Fähigkeit des willkürlichen Hellsehens erlangen kann.

   Die günstigste Zeit zum Üben ist gleich nach dem Erwachen am Morgen, ehe Sorgen und Plagen des täglichen Lebens in den Intellekt eingedrungen sind. Man kommt dann frisch aus den inneren Welten und wird daher leichter wieder mit ihnen in Berührung gebracht, als zu irgend einer anderen Tageszeit. Man kleide sich nicht vorher an und richte sich auch nicht im Bett auf, sondern entspanne den Körper vollständig und beginne bei den ersten wachbewußten Gedanken die Übungen. Unter Entspannung wird nicht nur eine bequeme Stellung verstanden. Es ist möglich, daß die Erwartung einen jeden Muskel strafft, was von vornherein den Erfolg unterbindet, denn in diesem Zustand ergreift der Empfindungsleib die Muskeln. Er kann nichts anderes tun, ehe wir nicht den Intellekt beruhigen.

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Konzentration

   Die erste Übung ist, seine Gedanken auf ein Ideal zu richten und dort festzuhalten, ohne sie abschweifen zu lassen. Es ist dies eine außerordentlich schwierige Aufgabe, sie muß aber in gewissem Maß beherrscht sein, ehe weitere Fortschritte möglich sind. Der Gedanke ist die Kraft, die wir verwenden, um unseren Ideen gemäße innere Bilder und Gedankenformen zu schaffen. Er ist unsere Hauptkraft, und wir müssen lernen, ihn vollständig zu beherrschen, so daß das Denken nicht wildes Phantasieren ist, das durch äußere Bedingungen hervorgerufen wird, sondern erzeugte, wahre Vorstellungskraft durch den Geist von innen (siehe Diagramm 1).

   Skeptiker sagen, daß dies alles Einbildung sei. Wäre aber der Erfinder, wie bereits erwähnt, nicht fähig gewesen, sich das Telefon vorzustellen, so würden wir heute weder dieses noch andere Dinge besitzen. Seine Vorstellungen (imaginings) waren zuerst nicht vollkommen richtig oder wahr, sonst hätten die Erfindungen von Anfang an erfolgreich funktioniert, ohne die vielen Fehler und scheinbar überflüssigen Versuche, die beinahe immer der Produktion eines praktischen und nützlichen Werkzeugs oder einer Maschine vorausgingen. Auch die Imagination des sich entwickelnden Okkultisten wirkt anfänglich nicht richtig. Die einzige Möglichkeit, sie richtig zu stellen, ist ununterbrochene Übung. Dabei wird der Wille geübt, sich auf ein Ding, einen Vorgang oder eine Idee mit Ausschluß aller anderen zu konzentrieren. Der Gedanke ist eine große Kraft, die wir gewöhnt sind, zu vergeuden. Wir gestatten unseren Gedanken sich ziellos zu ergießen, so wie das Wasser über einen Abgrund stürzt, ehe man es zum Treiben einer Mühle verwendet.

   Die Sonnenstrahlen, die über die ganze Erde verteilt werden, erzeugen nur eine mäßige Wärme, aber schon einige wenige von ihnen können, durch eine Sammellinse vereinigt, im Brennpunkt Feuer entzünden.

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   Gedankenkraft ist das mächtigste Mittel, Erkenntnisse zu erlangen. Wenn sie auf einen Gegenstand konzentriert wird, so brennt sie ihren Weg durch jedes Hindernis und löst das Problem. Wenn das erforderliche Maß von Gedankenkraft erreicht ist, wird dem menschlichen Verständnis alles zugänglich. Solange wir die Gedankenkraft zerstreuen, ist sie uns von geringem Nutzen. Wenn wir aber reif sind, sie einzuspannen, ist jede Erkenntnis unser.

   Wir hören oftmals Menschen bedauernd ausrufen: "Oh Gott, ich kann nicht an hundert Dinge auf einmal denken!" Gerade das aber war der von ihnen begangene Fehler und er verursachte die Störung, über die sie sich beklagen. Die Menschen denken gewöhnlich an hundert andere Dinge als an die, die sie in der Hand haben. Jeder Erfolg ist durch beharrliche Konzentration auf das erwünschte Ziel zustandegekommen.

   Das muß vom Strebenden unbedingt gelernt werden. Es gibt durchaus keinen anderen Weg. Zuerst wird er finden, daß er an alles unter der Sonne eher zu denken vermag, als an die Idee, auf die er sich zu konzentrieren entschlossen hatte. Das darf ihn aber nicht entmutigen. Mit der Zeit wird es ihm leichter werden, seine Sinne zu beruhigen und seine Gedanken festzuhalten. "Beharrlichkeit", Beharrlichkeit und immer wieder BEHARRLICHKEIT wird am Ende siegen. Ohne sie kann aber kein Erfolg erwartet werden. Es nützt nichts, die Übungen zwei oder drei Morgen oder Wochen lang durchzuführen und sie dann ebenso lange Zeit zu vernachlässigen. Um wirksam zu werden, müssen sie getreulich regelmäßig jeden Morgen ausgeführt werden.

   Entsprechend dem Charakter und der mentalen Verfassung des Strebenden kann jeder beliebige Gegenstand gewählt werden. Er muß nur rein, und die Gedanken müssen erhebend sein. Einige werden Christus wählen. Andere lieben besonders Blumen, und es fällt ihnen leicht, sie als Gegenstand ihrer Konzentration zu wählen. Der Gegenstand selbst tut wenig zur Sache. Welcher Art er auch sei, wir müssen ihn uns bis in alle Einzelheiten lebensgetreu vorstellen.

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Wenn es Christus ist, so müssen wir ihn uns als einen wirklichen Christus vorstellen, mit lebhaften Zügen, Leben im Blick und einem Ausdruck, der nicht steinern und tot ist. Wir müssen uns ein lebendes Ideal und keine Statue erbauen. Wenn es eine Blume ist, so müssen wir den Samen nehmen, ihn in die Erde versenken und unseren Intellekt fest darauf richten. Wir werden ihn alsbald zerspringen und seine Wurzeln ausstrecken sehen, welche die Erde spiralförmig durchdringen.

   Von den Hauptzweigen der Wurzeln beobachten wir Myriaden von Wurzelfasern, die sich verteilen und sich nach allen Richtungen verästeln. Dann beginnt der Stengel sich aufwärts zu streken. Er durchbricht die Oberfläche der Erde und kommt als zarter, grüner Stiel zum Vorschein; die Pflanze wächst. Wir sehen einen Ableger: ein zarter Zweig schießt aus dem Hauptstamm. Es wächst ein anderer Ableger. Ein Zweig erscheint. Aus den Zweigen sprießen kleine Stiele mit Knospen an ihren Enden. Alsbald sind viele Blätter daran. Dann erscheint an der Spitze eine Knospe. Sie wird größer, bis sie aufspringt und sich die roten Rosenblätter unter dem Grün zeigen.

   Dann entfaltet sie sich in der Luft, wobei sie einen herrlichen Duft ausströmt, den wir mit unseren Sinnen vollständig aufnehmen, gleich einer sanften Sommerbrise, die uns diese wundervolle Schöpfung zärtlich vor das Auge des Geistes weht.

   Nur wenn wir uns in solch klaren und vollständigen Umrissen etwas "vorstellen", dringen wir in den Geist der Konzentration ein. Es darf jedoch kein schattenhaftes, schwaches Abbild sein.

   Indienfahrer erzählten von Fakiren, die ihnen einen Samen zeigten, ihn vor den Augen des erstaunten Zuschauers einpflanzten und wachsen ließen, worauf er Früchte trug, die der Reisende kostete. Dies wurde durch derart verdichtete Konzentration geleistet, daß das Bild nicht nur dem Fakir, sondern auch den anderen sichtbar wurde. Man berichtet einen Fall, in dem Teilnehmer einer wissenschaftlichen Expedition Zeugen solch wunderbarer Dinge waren, die sich

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vor ihren Augen zutrugen, und zwar unter Bedingungen, bei denen ein Schwindel ausgeschlossen war, und doch wurde auf den Fotografien nichts gesehen, die man während des Experimentes machte. Auf den lichtempfindlichen Platten blieb kein Eindruck zurück, weil nichts Materielles bzw. Konkretes vorhanden war.

   Zu Beginn werden die Bilder, die sich der Aspirant entwirft, nur schattenhafte und armselige Abbilder sein. Er kann aber schließlich durch Übung ein Bild heraufbeschwören, das lebendiger und wirklicher ist als die Dinge der physischen Welt.

   Wenn es dem Strebenden gelungen ist, solche Bilder zu formen, und er seinen Intellekt erfolgreich auf den so erzeugten Bildern festhalten kann, möge er versuchen, das Bild plötzlich wegzulassen, und indem er seinen Intellekt (mind) frei von jeglichen Gedanken hält, warten, was zunächst in die Leere eintritt.

   Es mag lange Zeit hindurch nichts erscheinen, und der Strebende muß sich sorgfältig davor hüten, sich eigene Visionen zu bilden. Wenn er aber fleißig, treu und geduldig jeden Morgen übt, so kommt eine Zeit, wo im Augenblick, in dem er das Bild fallen gelassen hat, sich die umgebende Empfindungswelt mit einem Schlag seinem inneren Auge öffnet. Zuerst mag es nur ein flüchtiger Anblick sein. Es ist aber ein ernster Vorbote dessen, was später nach Belieben kommen wird.

Meditation

   Wenn der Strebende (Aspirant) einige Zeit hindurch die Konzentration geübt und seinen Intellekt auf irgendeinen einfachen Gegenstand einzustellen gelernt hat, durch die Vorstellungskraft (Imagination) eine lebende Gedankenform erbauend, dann wird er durch Meditation oder Nachdenken alles über das so erschaffene Objekt erfahren.

   Vorausgesetzt, daß der Strebende durch Konzentration das Bild Christi heraufgerufen hat, so ist es sehr leicht, durch Meditation die Ereignisse seines Lebens, seines Leidens und

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seiner Auferstehung ins Gedächtnis zurückzurufen. Außerdem kann man durch Meditation vieles lernen. Erkenntnisse, von denen man niemals vorher auch nur geträumt hat, werden die Seele mit erhabenem Licht durchfluten. Man wähle jedoch zum Üben am besten solche Dinge, die einen nicht interessieren, und die einem von sich aus nichts Wundersames aufdrängen, zum Beispiel ein Streichholz oder einen gewöhnlichen Tisch.

   Hat man im Intellekt (mind) das Bild eines Tisches klar geformt, so denke man darüber nach, aus welcher Holzart er ist und woher er kam. Man gehe zurück bis zu der Zeit, wo er als winziger Same von einem gefällten Baum fiel und in den Boden des Waldes versank. Man beobachte von Jahr zu Jahr sein Wachstum, vom Winterschnee bedeckt und von der Sommersonne gewärmt, unablässig wachsend, seine Wurzeln unter der Erde verbreitend. Zuerst ist es ein im Winde schwankender Schößling. Dann, als junger Baum, streckt er sich höher in die Luft und der Sonne zu. Mit den Jahren wird sein Umfang immer größer, bis eines Tages der Holzfäller mit Axt und Säge kommt, welche die Strahlen der Wintersonne glänzend widerspiegeln. Unser Baum wird gefällt und seiner Zweige beraubt. Nur noch der Stamm bleibt übrig. Dieser wird in Blöcke geschnitten, die auf gefrorenen Wegen zum Flußufer geschleift werden, um dort auf das Frühjahr zu warten, wenn der schmelzende Schnee die Ströme anschwellen läßt. Aus den behauenen Stämmen, in deren Mitte sich unser Baum befindet, wird ein großes Floß gebaut.

   Wir kennen jede kleine Besonderheit von ihm und würden ihn unter tausenden erkennen, so genau haben wir ihn in unserem Intellekt (mind) festgehalten. Wir folgen dem Floß den Fluß entlang, bemerken die vorüberziehende Landschaft und werden mit den Männern bekannt, die das Floß führen und in kleinen Hütten schlafen, erbaut auf der schwimmenden Ladung. Endlich sehen wir, wie es bei der Sägemühle ankommt und zerlegt wird. Die Stämme werden einer nach dem andern von Haken, die an langen Ketten befestigt sind, ergriffen und aus dem Wasser gezogen. Hier kommt einer von den Stämmen, aus dessen breitester Stelle die Tischplatte

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unseres Tisches gemacht werden soll. Er wird aus dem Wasser herausgezogen und auf den Holzplatz gebracht, wo er von Männern mit langen Haken herumgerollt wird. Wir hören das hungrige Gewinsel der großen Kreissägen, die sich so schnell drehen, daß sie unseren Augen nur als verschwommene Ringe erscheinen. Unser Block wird auf einen Wagen gelegt und zu einer von ihnen befördert, wo die Stahlzähne sofort ihren Weg durch den Stamm reißen. Sie teilen ihn in Bretter und Planken. Einige Teile werden als Bauholz ausgewählt. Das Beste aber wird in die Möbelfabriken gebracht und in einen Trockenraum gelegt, wo es durch Dampf getrocknet wird, damit es nicht schrumpft, wenn es zu Möbeln verarbeitet worden ist. Dann wird es hervorgeholt und durch die vielen scharfen Messer einer Hobelmaschine geglättet. Nun wird es zunächst in verschiedene Längen zersägt und zusammengeleimt, um Tischplatten zu formen. Die Beine werden aus dickeren Stücken gedreht und in den Rahmen eingefügt, der die Platte trägt. Dann wird das gesamte Möbelstück noch einmal mit Sandpapier gerieben, gebeizt, poliert, und der Tisch ist fertig. Als nächstes wird er mit anderen Möbelstücken in das Warenlager gebracht, wo wir ihn kauften. Wir folgen ihm schließlich, wie er von diesem Ort in unser Heim gefahren wird und im Speisezimmer seinen Platz erhält.

   So sind wir durch Meditation mit den verschiedenen Industriezweigen in Verbindung gekommen, die erforderlich sind, um einen Baum in ein Möbelstück zu verwandeln. Wir haben alle Maschinen und Menschen gesehen und die Eigentümlichkeiten der einzelnen Örtlichkeiten festgehalten. Wir haben sogar den Lebensprozeß verfolgt, durch den dieser Baum vom winzigen Samenkorn aufgewachsen ist und erfahren, daß auch ganz gewöhnliche Dinge eine große und außerordentlich fesselnde Geschichte besitzen. Eine Stecknadel, das Zündholz, mit dem wir unsere Lampen anzünden, selbst das Gas und der Raum, in dem das Gas verbrannt wird, sie alle haben interessante Geschichten, die es wert sind, sie kennenzulernen (heute, 1992, sind die Themen zeitbedingt zwar etwas anders, doch bleibt das Prinzip dasselbe - d.Ü.).

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Beobachtung

   Eine der wichtigsten Hilfen für den Strebenden bei seinen Bemühungen ist die Beobachtung. Die meisten Menschen gehen wie mit Blindheit geschlagen durchs Leben. Es ist wörtlich wahr, daß sie "Augen haben und nicht sehen, Ohren haben und nicht hören". Über der Mehrheit der Menschen liegt ein tiefbeklagenswerter Mangel an Beobachtungsgabe.

   Die meisten Menschen sind aber durch ihr unnormales Sehvermögen in gewissem Grad dafür entschuldbar, denn das städtische Leben schädigt die Augen enorm. Auf dem Land lernt das Kind die Muskeln seiner Augen in vollem Maß gebrauchen. Es erweitert sie oder zieht sie zusammen, je nachdem es einen Gegenstand auf weitere Entfernung, im offenen Land oder in der Nähe sehen muß. Das Stadtkind hingegen sieht alles aus der Nähe. Die Muskeln seiner Augen werden selten gebraucht, um Gegenstände in größerer Entfernung zu beobachten, wodurch diese Fähigkeit in beträchtlichem Maß verloren geht. Das äußert sich im Überhandnehmen von Kurzsichtigkeit und anderen Augenleiden.

   Für einen nach dem höheren Leben Strebenden ist es äußerst wichtig, alle Dinge seiner Umgebung klar, in bestimmten Umrissen und bis in die Einzelheiten zu sehen. Für einen, der an mangelndem Sehvermögen leidet, ist der Gebrauch von Brillen wie die Eröffnung einer neuen Welt. Statt der früheren Verschwommenheiten sieht er alles scharf und deutlich. In Fällen, in denen Gläser von zweierlei Brennweite benötigt werden, sollte man nicht zwei Brillen für Nah- und Fernsicht tragen, was öfteren Wechsel erfordert. Nicht nur, daß der Wechsel ermüdend ist, es wird beim Fortgehen auch leicht eine Brille vergessen. Die beiden Brennweiten können in einer Brille mit Gläsern von doppelter Brennweite (bivokal) vereinigt werden, und man sollte solche Gläser tragen, um sich die Beobachtung der geringsten Einzelheiten zu erleichtern.

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Unterscheidung

   Wenn der Strebende seine Aufmerksamkeit dem Sehver- mögen zugewandt hat, sollte er systematisch jedes Ding und jeden Menschen beobachten, aus deren Handlungen Schlüsse ziehen und so die Fähigkeit logischer Schlußfolgerung pflegen. Logik ist in der physischen Welt der beste Lehrer und ein sicherer und verläßlicher Führer auch in jeder anderen Welt.

   Während man die Methode der Beobachtung ausübt, sollte man immer daran denken, daß sie nur zur Sammlung von Tatsachen, niemals aber zum Zweck der Kritik, zum mindesten nicht einer mutwilligen Kritik, verwendet werden darf. Aufbauende Kritik, die so gut die Fehler wie ihre Heilmittel aufsucht, ist die Grundlage des Fortschrittes. Zerstörende Kritik jedoch, die vandalisch Gutes und Böses zugleich vernichtet, ohne auf Vervollkommnung hinzuarbeiten, ist ein Krebsgeschwür im Charakter und muß ausgetilgt werden.

   Klatsch und müßige Zwischenträgereien sind Hemmungen. Niemand verlangt von uns, daß wir sagen sollen, schwarz sei weiß, und daß wir offenkundig schlechtes Betragen übersehen sollen. Die Kritik sollte zum Zweck der Hilfe ausgeübt werden, nicht um mutwillig den Charakter eines Mitmenschen zu beflecken, weil wir einen kleinen Makel gefunden haben. Wir sollten immer an die Parabel von Splitter und Balken denken und unsere erbarmungslose Kritik uns selbst zuwenden. Keiner ist so vollkommen, daß er sich nicht bessern könnte. Je untadeliger ein Mensch ist, desto weniger ist er bereit, an anderen Fehler zu finden, Steine auf sie zu werfen. Wenn wir auf Fehler hinweisen und Mittel der Besserung angeben, so muß dies ohne jedes persönliche Gefühl geschehen. Wir müssen immer das Gute suchen, das in allem verborgen ist. Die Pflege der Unterscheidung (Beurteilung) in solcher Einstellung ist besonders wichtig.

   Wenn der nach Kenntnissen aus erster Hand Strebende sich einige Zeit lang in Konzentration und Meditation geübt hat

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und darin gute Erfolge aufweist, so ist der nächste Schritt zu machen.

   Wir haben gesehen, daß die Konzentration die Gedanken auf einen einzigen Gegenstand sammelt. Sie ist das Mittel, durch das wir ein klares, objektives und lebendiges Bild der Form aufbauen, worüber wir Kenntnisse zu sammeln wünschen.

   Meditation ist die Übung, durch die wir die Geschichte des von uns zu erforschenden Gegenstandes ermitteln. In ihn eingedrungen, suchen wir sozusagen jedes Beweisstück seiner Verbindung mit der Welt im allgemeinen heraus.

   Diese beiden mentalen Übungen befassen sich in tiefster und durchdringendster Weise mit Dingen, sie führen zu einem höheren, feineren und tieferen Zustand mentaler Entwicklung, der sich mit der Seele der Dinge befaßt. Der Name dieses Stadiums ist Betrachtung.

Betrachtung (Kontemplation)

   Bei der Betrachtung ist kein sich Versenken in Gedanken oder in eine Vorstellung nötig, um Wissen zu erlangen, wie das bei der Meditation der Fall ist. Sie besteht einfach darin, daß wir den Gegenstand vor unserem geistigen Auge festhalten und seine Seele zu uns sprechen lassen. Wir ruhen still und entspannt auf einem Bett oder sonstigen Lager. Nicht passiv, sondern vollständig wach. Wir nehmen die Belehrung auf, die wir sicher erhalten werden, wenn wir den richtigen Entwicklungsstand erreicht haben. Dann scheint die Form des Gegenstandes zu verschwinden, und wir sehen nur das Leben an seiner Arbeit. Die Betrachtung klärt uns über die Lebensseite auf, wie die Meditation uns über die Formseite belehrte.

   Wenn wir diesen Zustand erreichen und vor uns zum Beispiel einen sich im Wald befindlichen Baum haben, so entschwindet uns völlig der Anblick der Form, und wir sehen

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nur das Leben, das in diesem Fall ein Gruppengeist ist. Wir werden zu unserem Erstaunen finden, daß der Gruppengeist des Baumes die verschiedenen Insekten einschließt, die sich von ihm nähren; daß der Parasit und sein Wirt Ausstrahlungen ein und desselben Gruppengeistes sind. Je höher wir in die unsichtbaren Reiche hinaufsteigen, desto weniger werden die getrennten und unterschiedlichen Formen, und um so vollständiger herrscht das Eine Leben vor, das dem Erforscher die erhabene Tatsache übermittelt: es gibt nur dieses Eine Leben, das allumfassende Leben Gottes, in dem wir tatsächlich "leben, uns bewegen und unser Sein haben".

   Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen - alle ohne Ausnahme - sind Äußerungen Gottes. Diese Tatsache bildet die wahre Grundlage der Bruderschaft, einer Bruderschaft, die alles umfaßt, vom Atom bis zur Sonne, da alles Ausstrahlungen Gottes sind. Vorstellungen von Bruderschaften, die eine andere Grundlage haben, wie Klassenunterschiede, Rassenverwandtschaft, Berufsgemeinschaft usw., bleiben hinter dieser Grundlage weit zurück, wie der okkulte Wissenschaftler klar erfaßt, nachdem er sieht, wie das allumfassende Leben in allem flutet, was besteht.

Anbetung (Adoration)

   Wenn durch die Betrachtung diese Höhe erreicht wurde, und der Aspirant klar erfaßt hat, daß er in Wahrheit Gott in dem Leben sieht, das alle Dinge durchdringt, so bleibt noch der höchste Schritt, die Anbetung, wodurch er sich mit der Quelle allen Seins vereint und durch diesen Akt das höchste Ziel erreicht, das der Mensch erreichen kann, bis am Ende des großen Manifestationstages die dauernde Vereinigung stattfindet.

   Der Meinung des Verfassers zufolge können weder die Höhen der Betrachtung noch der letzte Schritt der Anbetung ohne die Hilfe eines Lehrers erreicht werden. Der Strebende braucht niemals zu fürchten daß er mangels eines Lehrers

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davon abgehalten werden wird, diese Schritte zu vollziehen. Er muß sich auch nicht nach einem Lehrer umsehen. Alles, was von ihm verlangt wird, ist, daß er beginnt, an sich zu arbeiten und hierin ernsthaft und beharrlich vorgeht. Auf diese Weise wird er seine Träger reinigen. Sie beginnen, in den inneren Welten zu leuchten und ziehen die Aufmerksamkeit der Lehrer an, die immer gerade nach solchen Fällen Ausschau halten. Sie sind überfroh und bereit, denen zu helfen, die durch ernsthafte Bestrebungen sich zu reinigen, das Recht auf Hilfe erworben haben.

   Die Menschheit bedarf dringend der Helfer, die fähig sind, in den inneren Welten zu wirken, daher: "suchet, so werdet ihr finden". Suchen ist aber kein Herumwandern von einem berufsmäßigen Lehrer zum andern. Ein "Suchen" in diesem Sinne kann in dieser finsteren Welt nichts nützen. Wir müssen selbst das Licht anzünden, das Licht, das unerschütterlich von den Trägern eines wahrhaft Strebenden ausstrahlt. Das ist der Stern, der uns zum Lehrer geleiten wird, oder besser gesagt, den Lehrer zu uns.

   Die Zeit, die erforderlich ist, um Erfolge bei den Übungen zu erzielen, ist bei jedem Menschen verschieden. Sie hängt von dem Fleiß, dem Stand der Entwicklung und dem, was im Buch des Schicksals verzeichnet ist, ab. Darum können keine Zeitmaße festgesetzt werden. Reife Menschen erzielen in ein paar Tagen oder Wochen gute Resultate. Andere müssen Monate, Jahre, ja sogar ihr ganzes Leben lang arbeiten, ohne sichtbare Erfolge zu erreichen, und doch sind die Erfolge da, und der Strebende, der treu beharrt, wird eines Tages in diesem oder einem anderen Leben seine Geduld belohnt sehen. Die innere Welt wird sich seinem Blick öffnen, und er wird sich als Bürger in Reichen wiederfinden, in denen die Möglichkeiten unermeßlich größer sind als in der physi- schen Welt.

   Von dieser Zeit an wird - ob wachend oder schlafend, ob tot oder lebend - das Bewußtsein ununterbrochen sein. Er wird bewußt ein fortwährendes Leben führen und den Nutzen

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aus allen Gegebenheiten ziehen, die auf eine raschere Beförderung in immer höhere Vertrauensstellungen abzielen, um zur Hebung der Rasse verwendet zu werden.

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XVIII. Die Struktur der Erde: Und Vulkanausbrüche

   Selbst die okkulten Gelehrten halten die Erforschung der geheimnisvollen Zusammensetzung der Erde für eines der schwierigsten Probleme. Jeder okkulte Gelehrte weiß, wie viel leichter es ist, gründlich und genau die Empfindungswelt und die Region der konkreten Gedanken zu erforschen und die diesbezüglichen Ergebnisse zurück in die physische Welt zu bringen, als die Geheimnisse unseres physischen Planeten vollständig zu erforschen. Denn um dieses zu vollbringen, muß man bereits durch die neun kleineren und die erste der großen Einweihungen geschritten sein.

   Die moderne Wissenschaft weiß von diesen Dingen sehr wenig. Über die Phänomene der Erdbeben ändert sie häufig ihre Theorien, da sie beständig Gründe entdeckt, die ihre früheren Hypothesen wieder umstürzen. Sie hat in wunderbarer Sorgfalt die äußerste Erdschicht durchforscht, doch nur bis in eine unbeträchtliche Tiefe. Vulkanische Ausbrüche sucht sie wie alles andere auf rein mechanische Weise zu erklären. Sie nimmt an, daß das Erdinnere feurig ist, und schließt daraus, daß die Eruptionen durch gelegentliches Eindringen von Wasser oder auf ähnliche Weise entstehen.

   In gewissem Sinn sind diese Theorien begründet. Sie berühren aber weder in diesem noch in allen andern Fällen die spirituellen Ursachen, die dem Okkultisten als die wahren erscheinen. Für ihn ist die Erde weit davon entfernt, "tot" zu sein, im Gegenteil. Jeder Winkel und jede Spalte der Erde ist von Geist durchdrungen, welcher der Sauerteig ist, durch den die Veränderungen in und auf dem Planeten hervorgerufen werden.

   Die verschiedenen Quarzsorten, die Metalle, die Anlage der verschiedenen Schichten - alles hat eine viel größere Bedeutung als der materialistische Forscher jemals ermitteln kann.

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Für den Okkultisten ist die Art und Weise, wie diese Materialien angeordnet sind, voller Bedeutung. Zu diesen wie auch allen anderen Dingen verhält sich die okkulte Wissenschaft zur modernen Wissenschaft, wie die Physiologie zur Anatomie.

   Die Anatomie stellt mit peinlicher Genauigkeit bis in die kleinsten Einzelheiten die genaue Stellung jedes Knochens, jedes Muskels, Bandes und jedes Nerves fest, bestimmt ihre Lage zueinander usw. Sie gibt jedoch keinen Schlüssel zum Verständnis von der Verwendung der verschiedenen Teile, aus denen der Körper besteht. Andererseits bestimmt die Physiologie nicht nur Stellung und Zusammensetzung jedes Körperteils, sondern berichtet auch von ihrer Verwendung im Körper.

   Die verschiedenen Schichten der Erde und die entsprechenden Stellungen der Planeten am Himmel zu kennen, ohne aber deren Bedeutung im Leben und in den Aufgaben des Kosmos zu wissen, ist ebenso nutzlos, wie nur die Stellung der Knochen, Nerven usw. zu kennen, ohne gleichzeitig über ihre Verwendung im funktionellen Haushalt des Körpers orientiert zu sein.


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