Die
Rosenkreuzer-Weltanschauung

von Max Heindel




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IV. Wiedergeburt und das Gesetz der Ursache und Wirkung

   Um das Rätsel des Lebens und des Todes zu lösen, sind nur drei beachtenswerte Theorien aufgestellt worden.

   Im vorhergehenden Kapitel ist eine dieser drei Theorien, die der Wiederverkörperung und des sie begleitenden Gesetzes von Ursache und Wirkung in gewissem Maß erörtert worden. Es scheint angebracht, die Theorie der Wiederverkörperung mit den beiden anderen Theorien zu vergleichen und dabei einen Blick auf ihre relative Begründung in der Natur zu werfen.

   Für den Okkultisten kann hier kein Zweifel bestehen. Er sagt nicht daß er an die Theorie "glaubt", ebenso wie wir nicht sagen, daß wir an das Blühen der Rose oder an das Fließen des Baches "glauben", an Erscheinungen, die sich ständig vor unseren Augen zutragen. Wir (die okkult Geschulten, die bereits mindestens eine Einweihung durchschritten haben - d.Ü.) sagen von diesen Dingen nicht daß wir "glauben", sondern wir "wissen", weil wir sehen.

   So kann der okkulte Wissenschaftler auch dann "ich weiß" sagen, wenn es sich um die Wiederverkörperung, um das Gesetz von Ursache und Wirkung und deren Begleiterscheinungen handelt. Er sieht das Ego und kann seinen Pfad vom Augenblick seines Austritts aus dem dichten Körper durch den Tod bis zum Augenblick seines Wiedererscheinens auf der Erde durch eine neue Geburt verfolgen. Darum braucht er nicht zu glauben. Aber zur Befriedigung der anderen mag es immerhin angebracht sein, diese drei Theorien von Tod und Leben zu überprüfen, um zu einem verstandesgemäßen Schluß zu kommen.

   Jedes große Naturgesetz muß unbedingt in Harmonie mit allen anderen Naturgesetzen stehen. Darum kann es für den

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   Fragenden von großem Nutzen sein, diese Theorien auf ihr Verhältnis zu den allgemein anerkannten und "bekannten Naturgesetzen" hin zu prüfen, die man in dem uns vertrauteren Teil des Universums beobachtet. Zu diesem Endzweck wollen wir zuerst die drei Theorien aufstellen.

1. Der Materialismus behauptet, daß das Leben eine Reise vom Mutterschoß bis zum Grab sei, daß der Intellekt das Resultat gewisser wechselseitiger Beziehungen innerhalb der Materie sei, daß der Mensch die höchste Intelligenz im Weltganzen darstelle, und daß diese Intelligenz zugrunde gehe, sobald sich der Körper im Tod auflöse.

2. Die Theorie der Theologen behauptet, daß bei jeder Geburt eine neugeschaffene Seele frisch aus der Hand Gottes in die Arena des Lebens trete und aus einem unsichtbaren Zustand durch das Tor der Geburt in eine sichtbare Existenz gelange; daß sie am Ende einer kurzen Zeitspanne - die sie in der materiellen Welt verbringe - durch das Tor des Todes in das unsichtbare Jenseits hinübergehe, von wo sie niemals wiederkehre; daß ihr Glück oder Elend dort für alle Ewigkeit durch ihre Taten während des winzigen Zeitraumes zwischen Geburt und Tod bestimmt werde.

3. Die Theorie der Wiedergeburt lehrt, daß jede Seele ein integrierter Bestandteil der Gottheit sei, der alle göttlichen Eigenschaften entfalte, so wie sich aus dem Samen die Pflanze entwickle. Sie lehrt, daß durch wiederholte Leben in immer besseren Erdenkörpern die latenten Möglichkeiten sich langsam zu treibenden Kräften entwikeln würden, daß bei diesem Vorgang niemand verloren gehe, und daß alle Menschen am Ende das Ziel der Vollkommenheit und die Wiedervereinigung mit Gott erreichen.

   Die erste dieser drei Theorien ist monistisch. Sie sucht alle Tatsachen des Daseins als Vorgänge innerhalb der Materie zu erklären. Die anderen zwei Theorien stimmen darin

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überein, daß sie dualistisch sind, das heißt, sie schreiben einen Teil der Existenz-Phasen und Existenz-Tatsachen einem überphysischen, unsichtbaren Zustand zu, gehen aber in anderen Punkten weit auseinander.

   Vergleichen wir die materialistische Theorie mit den bekannten Gesetzen des Universums, so finden wir, daß die Fortdauer der Kraft ebenso besteht wie die Fortdauer der Materie, sie beide bedürfen keiner Erläuterung. Wir wissen auch, daß in der physischen Welt Kraft und Stoff untrennbar sind. Das widerspricht aber der materialistischen Theorie, die behauptet, daß der Intellekt beim Tod zugrunde geht.

   Wenn nichts zerstört werden kann, so muß auch der Intellekt inbegriffen sein. Mehr noch; wir wissen, daß der Intellekt dem Stoff überlegen ist, denn er formt das Antlitz, so daß es ein Abbild oder Spiegelbild des Intellekts wird. Wir haben entdeckt, daß die Teilchen unseres Körpers fortwährend wechseln; daß mindestens einmal in sieben Jahren jedes Atom der Materie, welche diesen zusammensetzt, sich verändert. Wenn die materialistische Theorie wahr wäre, so müßte auch das Bewußtsein eine vollständige Veränderung durchlaufen, und es dürfte keine Erinnerung irgendeines Ereignisses zurückbleiben, so daß man sich zu keiner Zeit an irgend etwas länger als sieben Jahre erinnern könnte. Wir wissen, daß dies nicht so ist.

   Wir erinnern uns an die Ereignisse aus unserer Kindheit. Viele ganz unbedeutende Vorfälle, die dem gewöhnlichen Bewußtsein längst entschwunden waren, tauchen Ertrinkenden in dem flüchtigen Überblick ihres Lebens deutlich auf, wovon sie nach ihrer Wiederbelebung berichten. Ähnliche Erfahrungen sind auch im Trancezustand ganz allgemein. Der Materialismus ist unfähig, diese Zustände des Unter- und Überbewußtseins zu erklären, daher beschäftigt er sich nicht damit. Bei dem gegenwärtigen Stand (1909) der wissenschaftlichen Forschungen, wo führende Gelehrte die Existenz dieser Erscheinungen außer jeden Zweifel stellten, ist die Politik des Beiseiteschiebens ein ernster Faktor in einer Theorie, die den Anspruch erhebt, das größte Rätsel des Lebens zu lösen - das Leben selbst.

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   Darum können wir uns von der materialistischen Theorie - als vollkommen ungeeignet, das Mysterium des Lebens und des Todes zu lösen - getrost abwenden und die nächste Theorie betrachten.

   Einer der größten Einwände gegen die orthodoxe theologische Lehre, wie sie ausgelegt wird, ist ihre vollständige und anerkannte Unzulänglichkeit. Von den Myriaden von Seelen, die geschaffen wurden und diesen Erdball bewohnt haben, seit die Zeiten begannen (selbst vorausgesetzt, daß der Weltbeginn wirklich nur um sechstausend Jahre zurückläge), soll nur die unbedeutende Anzahl von "einhundertvierundvierzigtausend" gerettet werden! Der Rest soll für ewige Zeiten gefoltert werden! Den größten Profit dabei macht allezeit der Teufel. Man kann nicht umhin, mit Buddha zu sagen: "Wenn Gott zuläßt, daß solches Elend besteht, so kann er nicht gut sein, und wenn er nicht die Macht hat, es zu verhindern, so kann er nicht Gott sein."

   In der Natur ähnelt nichts einem solchen Vorgehen, das erschafft, um Zerstörung folgen zu lassen. Es ist bezeichnend, daß Gott ALLE zu retten wünscht und den Untergang keines einzigen will, und daß Er zu ihrer Erlösung "seinen einzigen Sohn" gegeben hat, und doch mißlang dieser "glorreiche Plan der Erlösung"!

   Wenn ein transatlantisches Linienschiff mit zweitausend Seelen an Bord eine drahtlose Meldung absetzen würde, daß es bei Sandy Hook sinke, hielte man es wohl schwerlich für einen "glorreichen Plan der Errettung (salvation)", ein schnelles Motorboot zu entsenden, das nur zwei oder drei Menschen fassen kann. Es würde viel eher als "Plan der Vernichtung" gelten, wenn man nicht passende Mittel zur Rettung mindestens des größten Teiles der Gefährdeten aufbrächte.

   Viel schlimmer ist der Rettungsplan der Theologen; denn zwei oder drei von zweitausend ist ein unverhältnismäßig größerer Prozentsatz, als der orthodoxtheologische Ret-

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tungsplan, der von all den Myriaden geschaffener Seelen nur 144 000 retten will. Wir können auch diese Theorie getrost als unwahr zurückweisen, denn sie ist unvernünftig. Wenn Gott allweise wäre, so hätte er einen wirksameren Plan erdacht. Und so war es auch. Die eben angeführte Theorie ist eben nur die der Theologen. Die Lehren der Bibel sind grundverschieden, wie sich später zeigen wird.

   Wir wenden uns nun der Betrachtung der Lehre von der Wiedergeburt zu. Sie nimmt einen langsamen Entwicklungsvorgang an, der aber mit aller Beharrlichkeit durch verschiedene Verkörperungen in Körpern mit immer zunehmender Vervollkommnung vor sich geht, wodurch alle sich mit der Zeit zur Höhe eines geistigen Glanzes entwickeln, den wir jetzt noch nicht erfassen können. In einer solchen Theorie gibt es nichts Unvernünftiges, nichts, was schwer anzunehmen wäre. Blicken wir uns in der Natur um, so finden wir überall dieses langsame, beharrliche Wachstum einer größeren Vollendung entgegen. Wir finden keine plötzlichen Vorgänge der Erschaffung und Vernichtung, wie die Theologen dies lehren. Wir finden aber überall Evolution.

   Evolution ist "die Geschichte des Fortschrittes des Geistes in der Zeit". Überall, wo wir die verschiedenartigen Erscheinungen des Weltalls betrachten, ersehen wir, daß der Pfad der Evolution eine Spirale ist. Jede Windung der Spirale ist ein Kreis. Jeder Kreis mündet in den nächsten, gleich wie sich auch die Windungen der Spirale fortsetzen. Jeder Kreis ist das verbesserte Produkt derer, die ihm vorangingen und Schöpfer von noch weiter entwickelten Zuständen, die ihm folgen.

   Eine gerade Linie ist nur die Ausdehnung eines Punktes. Sie nimmt im Raum nur eine einzige Dimension ein. Die Theorien der Materialisten und der Theologen gleichen dieser Linie. Der Materialist läßt die Lebenslinie bei der Geburt einsetzen und um folgerichtig zu bleiben, muß die Todesstunde sie abschließen. Der Theologe beginnt seine Linie mit der Erschaffung der Seele unmittelbar vor der Geburt.

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Nach dem Tod soll die Seele weiterleben und ihr Schicksal durch die Taten einiger weniger Erdenjahre unwiderruflich bestimmt sein. Es soll keine Wiederkehr geben, um Fehler zu verbessern. Die Linie geht geradeaus weiter und läßt ein geringes Maß an Erfahrung und keine Erhebung der Seele nach dem Tod zu.

   Der natürliche Fortschritt verfolgt keine gerade Linie, so wie diese beiden Theorien es annehmen. Er verfolgt auch keinen kreisförmigen Weg, denn dieser würde einen unendlichen Kreislauf derselben Erfahrungen und die Anwendung von nur zwei Raumausdehnungen bedeuten. Alle Dinge bewegen sich in fortschreitenden Zyklen. Damit wir den größten Vorteil aus all den Gelegenheiten ziehen können, die uns durch unser dreidimensionales Universum geboten werden, sollte das sich entwikelnde Leben dem dreidimensionalen Pfad - der Spirale - folgen, der immer vorwärts und aufwärts führt.

   Ob wir nun eine der bescheidenen kleinen Pflanzen in unserem Garten ansehen oder im "redwood district" Kaliforniens einen der Küsten-Mammutbäume mit seinem Durchmesser von nahezu 12 Metern untersuchen, es bleibt immer dasselbe: jeder Zweig, jeder Ast, jedes Blatt wächst entweder in einer einfachen oder in einer doppelten Spirale oder in einander gegenübergestellten Paaren, wo jedes dem anderen das Gleichgewicht hält, wie Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Leben und Tod und andere einander ablösende Naturtätigkeiten.

   Untersuche den gewölbten Himmelsbogen mit den feurigen Urnebelmassen oder den Weg des Sonnensystems: Überall begegnet das Auge der Spirale. Im Frühjahr wirft die Erde ihre weiße Decke ab und geht aus ihrer Ruhezeit - aus ihrem Winterschlaf - hervor. Sie setzt alle ihre Kräfte in Bewegung, die überall neues Leben hervorbringen. Die Zeit vergeht, Korn und Trauben werden geerntet, und wieder verschwindet der tätige Sommer in der Stille und Untätigkeit des Winters. Wieder umhüllt die Schneedecke die Erde. Aber ihr Winterschlaf ist nicht ewig, denn sie wird wieder zum Gesang des

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neuen Frühlings erwachen, der für sie einen kleinen Fortschritt auf dem Pfad der Zeit bedeutet.

   Ebenso die Sonne. Sie geht am Morgen jeden Tages auf, aber jeden Morgen hat sie ein Stück auf ihrer Jahresreise zurückgelegt.

   Überall die Spirale - vorwärts, aufwärts, in Ewigkeit!

   Ist es denn möglich, daß dieses in allen Reichen wirksame Gesetz für das Leben des Menschen nicht gelten sollte? Soll die Erde jedes Jahr von ihrem Winterschlaf erwachen, soll der Baum und die Blume wieder leben und der Mensch sollte sterben? Das kann nicht sein! Dasselbe Gesetz, welches das Leben in der Pflanze zu neuem Wachstum erweckt, wird das menschliche Wesen zu neuen Erfahrungen, zu weiteren Fortschritten erwecken und es so dem Ziel der Vervollkommnung entgegenführen. Deshalb befindet sich die Theorie der Wiedergeburt, die wiederholte Verkörperung in ständig sich bessernden Trägern lehrt, in völliger Übereinstimmung mit der Evolution und den Erscheinungen der Natur. Das ist bei den beiden anderen Theorien nicht der Fall.

   Wenn wir das Leben vom ethischen Gesichtspunkt aus betrachten, werden wir finden, daß das Gesetz der Wiedergeburt in Verbindung mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung, die einzige Theorie ist, die unser Gerechtigkeitsgefühl im Einklang mit den um uns herum wahrzunehmenden Tatsachen des Lebens befriedigt.

   Für einen logischen Intellekt ist es nicht leicht zu verstehen, wie ein "gerechter und liebevoller" Gott dieselben Tugenden von all den Milliarden verlangen kann, die er nach nicht offenbarter Regel und nicht erkennbarem System, doch wohl oder übel entsprechend seiner eigenen launenhaften Stimmung "nach Belieben (pleased) in unterschiedliche Verhältnisse verteilt hatte". Der eine lebt im Luxus, der andere "von Tritten und Krusten". Einer hat eine moralische Erziehung und lebt in einer Atmosphäre hoher Ideale. Der andere muß in unsauberer Umgebung leben. Er wird zum Lügen und Stehlen angeleitet, und je mehr er darin leistet, um so größer ist sein Erfolg. Ist es gerecht, von beiden dasselbe zu verlangen? Ist es gerecht, den einen für ein gutes

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   Leben zu belohnen, wenn er sich in Lebensumständen befindet, die ihm ein Abirren vom rechten Weg außerordentlich schwer machen, oder den anderen zu bestrafen, der so stark belastet wurde, daß er niemals auch nur erkennen konnte, was wahre Sittenreinheit bedeutet? Sicher nicht! Ist es nicht logischer zu denken, daß wir die Bibel schlecht ausgelegt haben könnten, als Gott einen so ungeheuerlichen Plan und eine so absurde Handlungsweise zur Last zu legen?

   Es ist nutzlos zu sagen, daß wir nach den Mysterien Gottes nicht fragen sollen, daß sie über unserem Fassungsvermögen stehen. Die Ungleichheiten des Lebens können zufriedenstellend aus dem Zwillingsgesetz der Wiedergeburt und der Ursache und Wirkung erklärt werden, und sie stehen dann in Harmonie mit der Annahme eines gerechten und weisen Gottes, wie Christus es selbst gelehrt hat.

   Außerdem zeigt sich durch diese Zwillingsgesetze auch ein Weg, uns aus gegenwärtigen unerwünschten Lagen oder Umgebungen - wie gezeigt wurde - zu befreien; zugleich geben sie uns auch die Mittel, jeden beliebigen Entwicklungsgrad zu erreichen, einerlei wie unvollkommen wir jetzt auch noch sein mögen.

   Was wir sind, was wir haben, alle unsere guten Eigenschaften, sind das Ergebnis unserer vergangenen Taten. Was uns jetzt noch an physischen, moralischen oder intellektuellen Gaben fehlt, können wir uns in Zukunft aneignen.

   Genau so, wie wir unser Leben jeden Morgen dort wieder aufnehmen müssen, wo wir es am vorhergehenden Abend beendet haben, so haben wir auch durch unsere früheren Leben die Bedingungen geschaffen, unter denen wir jetzt leben und wirken, und wir schaffen gegenwärtig die Bedingungen für unsere künftigen Leben. Statt den Mangel irgendeiner Fähigkeit - nach der wir begehren - zu beklagen, müssen wir an uns arbeiten, um sie zu erwerben.

   Wenn ein Kind auf einem Musikinstrument mühelos spielen lernt, während ein anderes trotz beharrlicher Anstrengungen im Vergleich dazu nur ein Stümper bleibt, zeigt dieser Unterschied nur, daß das eine im vergangenen Leben viel Mühe anwandte und nun eine frühere Fertigkeit leicht

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wiedergewinnt, während das andere mit seinem Streben erst in diesem Leben begonnen hat. Infolgedessen sehen wir sein mühevolles Üben.

   Aber der weniger Tüchtige kann - vorausgesetzt, daß er beharrlich danach strebt - es in diesem Leben sogar weiter bringen, als der erstere, wenn dieser nicht beständig an sich arbeitet.

   Daß wir uns nicht der harten Anstrengungen zur Erlangung einer Fähigkeit erinnern, ist ohne Bedeutung; es ändert nichts an der Tatsache, daß uns die Fähigkeit bleibt.

   Genialität ist das Kennzeichen einer fortgeschrittenen Seele, die sich durch harte Arbeit in vergangenen Leben in irgendeiner Richtung über das Durchschnittsmaß der Rasse hinaus entwickelt hat. Es gibt uns eine Vorstellung von dem Grad der Vollkommenheit, der in der kommenden Rasse Allgemeinbesitz sein wird.

   Das Genie kann nicht durch die Theorie der Vererbung erklärt werden, die sich auf den dichten Körper nur zum Teil, auf die Eigenschaften der Seele aber gar nicht anwenden läßt. Wenn die Erblichkeit die Grundursache des Genies wäre, warum hat dann Thomas Edison nicht eine lange Reihe von Vorfahren, von denen jeder geschickter war, als der vorhergehende? Warum vererbt sich die Anlage nicht? Warum ist Siegfried, der Sohn, nicht größer als Richard Wagner, der Vater?

   In dem Fall, wo die Entfaltung des Genies auf dem Besitz besonders gebauter Organe beruht, die ganze Leben zu ihrer Entwicklung brauchen, verkörpert sich das Ego selbstverständlich in einer Familie, deren Egos durch Generationen bestrebt waren, ähnliche Organe zu schaffen. Das ist der Grund, warum sich in der Familie Bach während 250 Jahren 29 Musiker von größerem oder geringerem Genius verkörperten. Aus der Tatsache, daß diese Genialität sich nicht allmählich entwickelte, um in der Person des Johann Sebastian Bach ihren Höhepunkt zu finden, sondern daß dessen Genialität, sowohl die seiner Vorfahren als auch die seiner

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Nachkommen weit überragte, geht klar hervor, daß das Genie eine Äußerung der Seele und nicht des Körpers ist.

   Der Körper ist ganz einfach nur ein Instrument, und die Arbeit, die er leistet, hängt vom Ego ab, das ihn leitet, so wie die Art der Melodie von der Geschicklichkeit des Musikers abhängt und durch den Klang des Instrumentes nur unterstützt wird. Ein guter Musiker kann sich auf einem armseligen Instrument nicht vollständig ausdrücken, und selbst auf ein und demselben Instrument werden und können nicht alle Musiker in gleicher Weise spielen.

   Wenn sich ein Ego als der Sohn eines großen Musikers inkarniert, so ist damit nicht gesagt, daß er ein noch größeres Genie sein müsse. Dieses müßte aber unbedingt so sein, wenn Genialität physisch erblich und nicht eine Eigenschaft der Seele wäre.

   Das "Gesetz der Anziehung" erklärt die Tatsachen, die wir der Vererbung zuschreiben, in vollkommen hinreichender Weise. Wir wissen, daß Menschen, die gleiche Interessen besitzen, einander suchen. Wenn ein Freund mit uns in einer Stadt wohnt, uns seine Adresse aber unbekannt ist, so werden wir ihn anhand seiner gesellschaftlichen Gepflogenheiten leicht finden. Wenn er Musiker ist, so wird er sicher dort zu finden sein, wo sich Musiker gewöhnlich versammeln; ist er Student, so wird man in Bibliotheken, Lesehallen und Bücherläden nachfragen, liebt er es zu wetten oder zu spielen, würden wir ihn beim Pferderennen, in Billardräumen oder ähnliche Orte besuchen und wir können sicher sein, daß ein Suchen des Wettliebhabers in der Bibliothek oder in einem klassischen Konzert vergeblich wäre.

   Gleicherweise neigt das Ego gewöhnlich zu verwandter Verbindung. Es wird dann durch eine der Zwillingskräfte der Empfindungswelt - durch die Kraft der Anziehung - angetrieben.

   Man kann den Einwand erheben, daß wir in derselben Familie Menschen mit grundverschiedenen Interessen, ja selbst Feinde finden und wie ist es dann möglich, daß das

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Gesetz der Anziehung solche Menschen zusammenführen konnte? Die Erklärung für diese Erscheinung liegt darin, daß während eines Erdenlebens viele Verbindungen mit verschiedenen Menschen angeknüpft wurden. Diese Verbindungen waren teils angenehmer, teils unangenehmer Natur. Sie schlossen Verpflichtungen ein, die zu gegebener Zeit nicht eingelöst wurden, oder sie ließen eine Beleidigung zu und entwickelten ein sehr starkes Haßgefühl zwischen dem Beleidigten und seinem Feind. Das Gesetz der Ursache und Wirkung verlangt einen genauen Ausgleich.

   Der Tod "bezahlt nicht alles", ebensowenig wie die Übersiedlung in eine andere Stadt eine Geldesschuld tilgt. Es kommt die Zeit, in der sich die beiden Feinde wieder begegnen müssen. Der alte Haß zieht sie in dieselbe Familie, denn Gottes Absicht ist, daß alle einander lieben sollen; darum muß der Haß in Liebe verwandelt werden. Wenn Menschen vielleicht auch viele Leben damit verbringen, um ihre Feindschaft "auszufechten", so werden sie endlich doch die Lehre erfassen und Freunde und gegenseitige Wohltäter werden, anstatt sich zu bekämpfen. In solchen Fällen erweckte das Interesse, das diese Menschen aneinander hatten, die Kraft der Anziehung, weshalb sie zusammengeführt wurden. Wären sie sich gleichgültig gewesen, so wären sie miteinander nicht in Verbindung gekommen.

   So lösen die Zwillingsgesetze der Wiedergeburt und der Ursache und Wirkung gründlich alle Probleme, die dem Leben des Menschen anhängen, während er langsam aber sicher der nächsten Stufe der Evolution - der des Übermenschen - zuschreitet.

   Die Theorie besagt, daß der Weg des menschlichen Fort- schritts immer vorwärts und aufwärts führt. Einige indische Stämme stellen sich die Lehre von der Wiedergeburt fälschlich so vor, als ob der Mensch sich in Tieren und Pflanzen wiederverkörpern würde. Das entspricht nicht den Tatsachen. Das wäre ein Rückschritt. In der Natur kann für diese Lehre des Rückschritts kein Nachweis gefunden werden und ebensowenig in den heiligen Büchern einer der verschiede-

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nen Religionen. In einer (und nur in einer) indischen religiösen Schrift wird diese Lehre berührt. In den Kathupanishaden (Kap. 5,9) wird gesagt, daß "einige Menschen ihren Taten entsprechend in den Mutterleib eingehen, andere in den 'sthanu'".

   "Sthanu" ist ein Sanskritwort, das sowohl "bewegungslos", als auch "Säule" bedeutet und wurde so interpretiert, als ob manche Menschen wegen ihrer Sünde in das unbewegliche Pflanzenreich zurückkehren.

   Die Geister verkörpern sich nur, um Erfahrungen zu sammeln, um die Welt zu besiegen, um das niedere Selbst zu überwinden und Selbst- Beherrschung zu erlangen. Wenn wir darüber nachdenken, so begreifen wir, daß eine Zeit kommen muß, in der wir weiterer Verkörperungen nicht mehr bedürfen, weil alle Lehren erlernt sind. Die Lehre der Kathupanishaden sagt, daß, statt an die Räder der Geburt und des Todes gebunden zu sein, der Mensch eines Tages in den Zustand des "Nirvana" eingehen werde.

   Im Buch der Offenbarungen finden wir folgende Worte: "Den, der überwindet, will ich zu einer Säule im Tempel meines Gottes machen, und er wird nicht mehr hinausgehen", was sich auf die endgültige Befreiung von konkreter Existenz bezieht. Nirgends finden wir einen Beweis für die Seelenwanderung. Ein Mensch, der eine individuelle, seperate Seele entwikelt hat, kann auf dem Wege des Fortschritts nicht mehr umkehren und in die Träger der Tiere und Pflanzen eintreten, die unter einem Gruppengeist stehen. Der individuelle Geist befindet sich auf einer höheren Entwicklungsstufe als der Gruppengeist, und das Geringere kann nicht das Größere enthalten.

   Oliver Wendel Holms gibt in seinem schönen Gedicht "Die Kammern des Nautilus" der Idee eines beständigen Fortschrittes in nach und nach besser werdenden Trägern und einer endlichen Befreiung Ausdruck. Der Nautilus baut seine

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spiralförmige Schale in begrenzten Abteilungen und verläßt immer die kleineren, denen er entwachsen ist.

  

    Des Tieres stilles Werk, so schimmernd klar,
    geschah hier Jahr um Jahr.
    Doch keine Windung faßt
    Im nächsten Jahr den unruhvollen Gast,
    Er stahl sich durch des Bogenganges Glast,
    Er baut sein müß'ges Tor.
    Wuchs mit dem neuen Heim, das alte er verlor.

    Armselig Kind der sturmbewegten Flut!
    Dein unverzagter Mut
    Mir Himmelsbotschaft bringt.
    Ein rein'rer Ton sich deinem Mund entringt,
    Dem stummen, als aus Tritons Horn erklingt!
    Mir tönt in deinem Wort
    Gedankentiefen zwingend, eine Stimme fort:

    Die nied're Wölbung der Vergangenheit
    Im Lauf der flücht'gen Zeit
    Verlaß, o Seele mein!
    Laß jeden Tempel edler, größer sein,
    Durch weit're Bogen sieh des Himmels Schein,
    Den Weg zur Freiheit geh.
    Die enge Hülle bleibe an des Lebens wilder See.

   Die oben erwähnte Notwendigkeit, einen Organismus von besonderer Beschaffenheit zu erhalten, bringt uns eine interessante Phase der Zwillingsgesetze, den Gesetzen der Wiedergeburt und der Ursache und Wirkung, in Erinnerung. Diese Gesetze stehen mit der Bewegung der Himmelskörper, der Sonne, der Planeten und Tierkreiszeichen in Verbindung. Alle bewegen sich harmonisch nach diesen Gesetzen. Die Planeten werden auf ihren Bahnen von den innewohnenden geistigen Intelligenzen - den Planetengeistern - gelenkt.

   Auf Grund des Vorrückens des Äquinoktiums bewegt sich die Sonne rückläufig durch die zwölf Zeichen des Tierkreises mit der Schnelligkeit von ungefähr einem Bogengrad in 72 Jahren und durch jedes Zeichen (30 Grade) in ungefähr 2.100 Jahren oder um den ganzen Kreis herum in ungefähr

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26.000 Jahren. Dies hat seinen Grund darin, daß sich die Erde nicht um eine feste Achse bewegt. Ihre Achse hat eine langsame, schwingende Bewegung, die dem Wanken eines Brummkreisels gleicht, der beinahe mit seiner Kraft am Ende ist. So beschreibt sie einen Kreis im Raum, wobei ein Stern nach dem andern zum Polarstern wird.

   Durch diese schwankende Erdbewegung kreuzt die Sonne den Äquator nicht jedes Jahr an derselben Stelle, sondern einige hundert Meter weiter rückwärts. Daher der Name "Präzession der Äquinoktien", weil das Äquinoktium "vorrückt", also zu früh kommt.

   Alle Ereignisse auf der Erde, die mit den anderen Himmelskörpern und deren Bewohnern zusammenhängen, sind mit dieser und weiteren kosmischen Bewegungen verknüpft. Dasselbe gilt von den Gesetzen der Wiedergeburt und der Ursache und Wirkung.

   Wie die Sonne im Lauf des Jahres die verschiedenen Zeichen des Zodiak durchläuft, beeinflussen der Wechsel des Klimas und andere Veränderungen den Menschen und seine Tätigkeit auf verschiedene Art und Weise. Ähnlich ruft der Lauf der Sonne durch die zwölf Tierkreiszeichen - der durch Präzession hervorgerufen wird und den man das Weltenjahr nennt - auf der Erde Veränderungen von noch viel größerer Mannigfaltigkeit hervor. Zum Seelenwachstum ist unbedingt erforderlich, daß alle damit verbundenen Erfahrungen vom Menschen durchlebt werden. Die Bedingungen werden tatsächlich, wie wir gesehen haben, in der himmlischen Welt zwischen den Geburten vom Menschen selbst vorbereitet.

   Darum wird jedes Ego, während die Sonne ein Zeichen durchläuft, mindestens zweimal geboren. Die Seele selbst ist zweigeschlechtig. Damit sie nun alle Erfahrungen machen kann, verkörpert sie sich abwechselnd in einem männlichen und in einem weiblichen Körper, denn die Erfahrungen der

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beiden Geschlechter weichen sehr voneinander ab. Während einer Zeit von 1000 Jahren ändern sich die äußeren Bedingungen nicht wesentlich und erlauben dem Geist die Aufnahme der Erfahrungen in derselben Umgebung sowohl vom männlichen als auch vom weiblichen Standpunkt aus.

   Das sind allgemeine Grundsätze, nach denen das Gesetz der Wiedergeburt vor sich geht, aber da es kein blindes Gesetz ist, so unterliegt es häufigen Abänderungen, die durch die Herren des Schicksals - die Engel der Chronik - bestimmt werden. Nehmen wir an, es handle sich um ein Individuum, das ein empfindsames Auge oder Ohr benötigt. Nun würde sich ihm eine Gelegenheit bieten, sich innerhalb einer Familie zu verkörpern, mit der es früher Beziehungen aufgebaut hatte, und die ihm gleichzeitig jene Voraussetzungen bieten könnte, die zur Ausbildung dieser feinen Instrumente erforderlich sind. Es können aber an der Zeit für die kommende Wiederverkörperung vielleicht noch 200 Jahre fehlen. Erkennen jedoch die Herren des Schicksals, daß das Ego, ohne diese Gelegenheit zu ergreifen, weitere 400 oder gar 500 Jahre über die durchschnittliche Zeit hinaus verstreichen lassen müßte, so kann es vorzeitig zur Wiedergeburt kommen. Es wird die so verkürzte Zeit im dritten Himmel zu einer anderen Zeit wieder einbringen können. So sehen wir, daß uns nicht nur die Abgeschiedenen vom Himmel aus beeinflussen, sondern daß auch wir sie beeinflussen, indem wir sie anziehen oder abstoßen. Eine günstige Gelegenheit zur Erlangung eines geeigneten Instruments kann ein Ego zur Wiedergeburt verlocken. Hätte sich kein brauchbares Instrument gefunden, so wäre es länger im Himmel geblieben, und die überschüssige Zeit wäre ihm von seinem künftigen himmlischen Leben abgezogen worden.

   Das Gesetz der Ursache und Wirkung arbeitet in Harmonie mit den Sternen, so daß ein Mensch zu einer solchen Zeit geboren wird, in der die Stellung der Himmelskörper im Sonnensystem die benötigten Bedingungen für seine Erfahrungen und seinen Fortschritt in der Schule des Lebens gewähren. Aus diesem Grund ist die Astrologie eine absolut wahre Wissenschaft, obwohl selbst die besten Astrologen sie falsch interpretieren können, da sie - wie alle menschlichen

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Wesen - irren können. Die Sterne zeigen mit unfehlbarer Sicherheit die Zeit im Leben des Menschen an, welche die Herren des Schicksals zur Begleichung seiner Schuld für ihn gewählt haben, und ein Entrinnen ist dem Menschen unmöglich. Ja, sie zeigen dies bis auf den Tag genau, obwohl wir nicht immer fähig sind, dies zu erkennen.

   Das vielleicht auffallendste Beispiel, das dem Verfasser über dieses Nicht-entrinnen-können, selbst wenn man vollkommene Kenntnis davon hat, bekannt ist, ereignete sich im Jahre 1906 in Los Angeles, in Kalifornien. Herrn L., einem wohlbekannter Lehrer, waren einige Belehrungen in Astrologie gegeben worden. Man stellte Herrn L. sein Horoskop, weil ein Schüler sich für sein eigenes natürlich mehr interessiert, als für das eines Fremden. Auch kann er die Genauigkeit der Darstellungen kontrollieren.

   Das Horoskop zeigte eine Neigung zu Unglücksfällen, und die Ereignisse in der Vergangenheit stimmten mit der angegebenen Zeit des Geschehens überein. Außerdem wurde ihm vorausgesagt, daß ihm ein weiterer Unglücksfall bevorstehe, der sich am 21. Juli oder am 7. Tag danach, also am 28. Juli ereignen würde; das letztgenannte Datum sei das gefährlichere. Er wurde vor Fahrgelegenheiten aller Art gewarnt; die Verletzungen würden Brust, Arme, Schultern und den unteren Teil des Kopfes betreffen. Er war von der Gefahr vollkommen überzeugt und versprach, an dem betreffenden Tag daheim zu bleiben.

   Der Autor reiste nach Norden, nach Seattle, und schrieb ein paar Tage vor der kritischen Zeit an Herrn L., um ihn nochmals zu warnen. Herr L. antwortete, daß er sich an die Warnung erinnere und sich danach richten würde.

   Die nächste Nachricht in dieser Angelegenheit kam von einem beiderseitigen Freund, der schrieb, daß Herr L. am 28. Juli 1906 mit der Straßenbahn nach Sierra Madre gefahren war und der Wagen mit einem Eisenbahnzug zusammengestoßen sei, wobei Herr L. sich die Verletzungen genau wie vorausgesagt zuzog; es wurde ihm auch eine Sehne des linken Fußes durchtrennt.

   Die Frage war, warum Herr L., der vollstes Vertrauen in die Voraussagung setzte, jenen Rat mißachtete. Nach drei

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Monaten - als er wieder soweit genesen war, um schreiben zu können - kam die Erklärung. Der Brief lautete: "Ich dachte, der 28. sei der 29."

   Für den Autor steht außer Frage, daß es sich um einen Fall von "reifem" Schicksal handelte, das durch die Sterne mit vollkommener Genauigkeit vorherbestimmt war, und vor dem es kein Entrinnen gab.

   Darum kann man die Sterne "die Uhr des Schicksals" nennen. Die zwölf Zeichen entsprechen dem Zifferblatt, die Sonne und die Planeten dem Stundenzeiger, der das Jahr bezeichnet, und der Mond dem Minutenzeiger, der die Monate anzeigt, wenn die verschiedenen Posten in der Rechnung des reifen Schicksals, das jedem Leben zugeteilt ist, zur Bezahlung kommen müssen.

   Und doch kann nicht stark genug betont werden, daß, wenn der Mensch auch verschiedenen Dingen nicht entgehen kann, er einen gewissen Spielraum für seinen freien Willen besitzt, um bereits in Gang befindliche Ursachen abzuändern.

   Ein Dichter schrieb darüber folgendes:

  

    "Ein Wind ist's, der das Schiff bewegt,
    Ob nach Ost oder West es schwimmt,
    Nicht der Sturm, der weht, - wie das Segel steht,
    Das allein die Fahrt bestimmt.

    Des Schicksals Gewalt gleicht dem Wind der See
    Auf des Daseins bewegter Flut,
    Sei es laut oder still, - unseres Lebens Ziel
    Nimmt die Seele in eigene Hut."

   Was haben ganz besonders zu erfassen, daß unser gegenwärtiges Handlungen künftige Bedingungen bestimmt.

   Orthodox Religiöse und selbst jene, die gar keine Religion anerkennen, führen als stärkstes Argument gegen das Gesetz der Wiedergeburt oft an, daß es den "unwissenden Heiden" in Indien gelehrt werde, die daran glauben. Wenn es aber ein Naturgesetz ist, so ist kein Einwand stark genug, es zu verletzen oder gar unwirksam zu machen. Ehe wir von "unwissenden Heiden" sprechen oder ihnen Missionare senden, würden wir gut tun, unsere eigenen Kenntnisse ein

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wenig zu prüfen. Überall klagen die Erzieher über die Oberflächlichkeit ihrer Schüler. Professor Wilbur L. Groß aus Yale führt unter verblüffenden Fällen von Unwissenheit an, daß in einer Klasse von 40 Studenten nicht einer wußte, wo er Judas Ischariot einordnen sollte!

   Sinnvoller dürfte es sein, die Arbeit von Missionaren in "heidnischen" Ländern und Elendsvierteln umzulenken, und sie die Studenten der Hochschulen unseres eigenen Landes aufklären zu lassen. Dies entspräche dem Grundsatz, daß "Nächstenliebe zu Hause beginnt" und "Gott die unwissenden Heiden nicht umkommen lassen wird". Es wäre besser, sie in der Unwissenheit zu lassen, mit der sie des Himmels sicher sind, als sie zu "erleuchten" und damit ihre Aussichten zu vermehren, in der Hölle zu enden. Dies ist gewiß einer der Fälle, von "wo Unwissenheit ein Segen ist, ist Wissen eine Torheit". Wir würden uns und den Heiden einen ausgezeichneten Dienst erweisen, wenn wir sie sich selbst überließen und uns um unsere unwissenden Christen hier zu Hause kümmerten. Ferner, die Lehre von der Wiedergeburt als eine heidnische zu bezeichnen, widerlegt sie nicht. Ihre angenommene Bedeutung im Osten ist ebensowenig ein Beweis gegen sie, wie die Genauigkeit der Lösung einer mathematischen Aufgabe nicht dadurch ungültig wird, daß wir zufällig den Menschen, der sie zuerst fand, nicht schätzen. Die einzige Frage ist: "Ist sie richtig?" Und wenn sie es ist, dann ist es vollkommen bedeutungslos, von wem die erste Lösung ausging.

   Alle anderen Religionen hatten zur christlichen Religion hinzuleiten. Sie waren Rassenreligionen und enthalten nur teilweise das, was das Christentum in größerem Maß enthält. Das wahre esoterische Christentum wurde bis jetzt noch nicht öffentlich gelehrt. Es wird auch nicht öffentlich gelehrt werden, ehe nicht die Menschheit den materialistischen Zustand überwunden hat und fähig ist, es aufzunehmen. Die Gesetze der Wiedergeburt und der Ursache und Wirkung sind allezeit im Geheimen gelehrt worden. Durch Christi eigenes Gebot hat, wie wir später erfahren werden, in den letzten 2000 Jahren in der westlichen Welt keine öffentliche Belehrung stattgefunden.

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Der Wein als ein Faktor in der Evolution

   Um den Grund dieser Unterlassung und die Mittel, die diese Lehre verschleiern sollten, zu verstehen, müssen wir zum Anfang der menschlichen Geschichte zurückgehen und betrachten, wie sie zu ihrem Heil von großen Lehrern der Menschheit geleitet worden ist.

   In den Lehren der okkulten Wissenschaft zerfallen die Entwicklungsabschnitte auf der Erde in Zeiträume, die wir "Epochen" nennen. Es gab deren 4: die polarische, die hyperboreische, die lemurische und atlantische. Die gegenwärtige Epoche heißt die arische.

   In der ersten oder polarischen Epoche hatte die gegenwärtige Menschheit nur einen dichten Körper, wie ihn die Mineralien jetzt besitzen. Er war ihnen daher ähnlich.

   In der zweiten oder hyperboreischen Epoche kam ein Lebensleib hinzu, und der werdende Mensch hatte einen Körper, wie er jetzt den Pflanzen eigen ist. Er war keine Pflanze, wohl aber ihr ähnlich.

   In der dritten oder lemurischen Epoche erhielt er einen Empfindungsleib und war zusammengesetzt wie das Tier: ein Tiermensch.

   In der vierten oder atlantischen Epoche entwickelte sich der Intellekt, und, soweit seine Träger in Betracht kommen, tritt er heute als MENSCH auf die Bühne des physischen Lebens.

   In der gegenwärtigen, der fünften oder arischen Epoche wird der Mensch in gewissem Grad den dritten oder niedersten Aspekt seines dreifachen Geistes entfalten - das Ego.

   Der Schüler möge sich gründlich einprägen, daß im Entwicklungsprozeß, bis zu jener Zeit, in welcher der Mensch Selbstbewußtsein erlangte, dem Zufall absolut nichts überlassen blieb.

   Nach der Gewinnung des Selbstbewußtseins bleibt dem Menschen ein gewisser Spielraum zur Anwendung seines

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  persönlichen Willens, um ihn seine göttlichen Geisteskräfte entfalten zu lassen.

   Die großen Führer der Menschheit ziehen alles in Betracht, auch die Nahrung des Menschen, denn sie hat viel mit seiner Entwicklung zu tun. "Sage mir, was du ißt, und ich sage dir, wer du bist", stammt nicht von weit her, sondern ist eine große Wahrheit der Natur.

   Der Mensch der ersten Epoche war ätherisch. Das widerspricht der Feststellung, daß er mineralisch gewesen sei, durchaus nicht, denn alle Gase sind mineralisch. Die Erde war noch weich, sie war noch nicht erstarrt. Die Bibel nennt den Menschen Adam, und es ist gesagt, daß er aus Erde gemacht worden war.

   Kain wird als ein Ackerbauer geschildert. Er symbolisiert den Menschen der zweiten Epoche. Er hatte einen Lebensleib wie die Pflanzen, die ihn ernährten.

   In der dritten Epoche wurde die Nahrung vom lebenden Tier bezogen, um die frühere Pflanzennahrung zu ergänzen. Milch war das Mittel, um den Empfindungsleib zu entwikeln, der den Menschen dieser Zeit tierähnlich machte. Das wurde mit der Behauptung in der Bibel "Abel war ein Schäfer" gemeint. Doch wird nirgends behauptet, daß er Tiere tötete.

   In der vierten Epoche hatte sich der Mensch über das Tier hinaus entwickelt, er besaß nun einen Intellekt. Die Gedanken zerstören die Nervenzellen, sie töten und verursachen Verfall. Analog dazu bestand deshalb die Nahrung des Atlantiers aus Fleisch von Tieren. Er tötete, um zu essen, und das ist, warum die Bibel behauptet, daß "Nimrod ein mächtiger Jäger" gewesen sei. Nimrod repräsentiert den Menschen der vierten Epoche.

   Mittlerweile war der Mensch tiefer und tiefer in die Materie hinabgestiegen. Sein früherer Lebensleib bildete das Skelett im Inneren und war fest geworden. Er hatte auch stufenweise die unmittelbare geistige Wahrnehmungskraft verloren, die er in früheren Epochen besaß, so war es

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bestimmt. Er ist berufen, diese Wahrnehmungsgabe auf einer höheren Stufe zurückzuerhalten, bereichert um das Selbstbewußtsein, das er damals nicht besaß. Während der ersten vier Epochen hatte er aber eine umfassendere Kenntnis der geistigen Welt. Er wußte, daß er nicht starb und daß das Vergehen eines Körpers gleich dem Vertrocknen eines Blattes im Herbst ist und daß ein anderer Körper an seine Stelle treten wird. Darum wußte er die Gelegenheiten und Vorteile dieses Erdenlebens zu wenig zu würdigen.

   Es war jedoch notwendig, daß er sich der großen Wichtigkeit dieses konkreten Daseins voll bewußt wurde, um aus ihm alles zu lernen, was zu lernen möglich war. So lange er fühlte, daß er ein Bürger der Höheren Welten ist und ganz bestimmt wußte, daß das physische Leben nur ein kleiner Teil der realen Existenz ist, nahm er es nicht ernst genug. Er bemühte sich nicht, die zahlreichen Gelegenheiten zum Wachstum wahrzunehmen, die ihm einzig und allein die gegenwärtige Phase des Lebens bieten kann. Er verbrachte seine Zeit, ohne die Hilfsquellen der Erde zu entwickeln, wie es heute noch die Bewohner Indiens aus demselben Grunde tun (1909).

   Die einzige Möglichkeit, den Menschen zur Würdigung seiner konkreten physischen Existenz zu erwecken, war, ihn für einige wenige Inkarnationen des Erinnerungsvermögens an seine höhere, geistige Existenz zu berauben. Darum erhielt er während seines Erdenlebens keine andere sichere Erkenntnis, als nur jene, die das gegenwärtige physische Leben betrifft, und er wurde auf diese Weise veranlaßt, es mit entsprechendem Ernst zu durchleben.

   Vor der christlichen Religion gab es Religionen, welche die Wiedergeburt und das Gesetz der Ursache und Wirkung lehrten. Es kam aber die Zeit, in der die Kenntnis dieser Lehren für die Entwicklung des Menschen nicht mehr förderlich war, und Unwissenheit darüber wurde als ein Zeichen des Fortschritts angesehen. Dieses eine Erdenleben sollte zur Hauptsache gemacht werden.

   Darum finden wir, daß die christliche Religion, wie sie öffentlich gelehrt wird, die Gesetze der Ursache und Wir-

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kung nicht enthält. Und dennoch muß das Christentum, da es die Religion der fortgeschrittensten Völker ist, auch die fortgeschrittenste Religion sein. Durch die Ausschaltung dieser Lehre von den öffentlichen Belehrungen wurde die materielle Welt von den angelsächsischen und teutonischen Völkern erobert, die eben diese Phase zur höchsten Entwicklung gebracht hatten.

   Wie in jeder Epoche die Nahrung des Menschen verändert oder ihr etwas neues hinzugefügt wurde, um den gegebenen Bedingungen zu entsprechen und ihren Zweck zu erfüllen, so finden wir zur Nahrung der vorigen Epoche ein neues Produkt hinzugefügt - den WEIN. Man benötigte ihn wegen seines benebelnden Einflusses auf das geistige Prinzip im Menschen, denn keine Religion konnte in und aus sich selbst heraus den Menschen seine geistige Natur vergessen lassen und in ihm das Gefühl erwecken, ein "Erdenwurm" zu sein. Die Religion konnte ihn nicht glauben machen, daß "wir uns mit derselben Kraft bewegen, mit der wir auch denken". Und es war in der Tat niemals beabsichtigt, daß es jemals so weit kommen sollte.

   Bis dahin war nur Wasser als Getränk verwendet worden. Auch in den Tempelzeremonien hatte man nur Wasser verwendet. Erst nach dem Untergang von Atlantis - eines Kontinents, der zwischen Europa und Amerika an der Stelle des heutigen atlantischen Ozeans lag - begannen die Menschen, die der Vernichtung entgangen waren, Wein anzubauen und herzustellen, wie wir dies in der biblischen Geschichte von Noah finden. Noah symbolisiert die Überlebenden der atlantischen Epoche, welche der Kern der fünften Rasse und daher unsere Vorfahren wurden.

   Das tätige Prinzip im Alkohol ist ein "Geist". So wie die Menschheit der früheren Epochen solche Nahrungsmittel genoß, die ihren Trägern am besten angepaßt waren, so wurde in der fünften Epoche dieser Geist den früher zur Entwicklung des Menschengeschlechts dienenden Nahrungsmitteln hinzugefügt. Er wirkte auf den Geist des Menschen

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der fünften Epoche. Ihn vorübergehend lähmend, brachte ihn dieser so zur Erkenntnis der richtigen Wertschätzung und Eroberung der physischen Welt. Darum vergißt der Mensch der gegenwärtigen Zeit seine geistige Heimat. Er hängt sich an diese Lebensform - die er früher verachtete - mit der ganzen Zähigkeit, geboren aus dem Gefühl, daß sie das einzig Vorhandene sei. Er zieht zumindest die Gewißheit dieser Welt der Möglichkeit eines Himmels vor, den er in seinem gegenwärtig benebelten Zustand nicht erkennt.

   In den Tempeln war bis dahin nur Wasser verwendet worden, doch nun änderte sich auch das. "Bacchus" - ein Gott des Weines - ersteht, und unter seiner Herrschaft vergessen die fortgeschrittenen Völker, daß es ein höheres Leben gibt. Keiner, der dem falschen Geist des Weines oder irgend eines alkoholischen Getränks (dem Produkt der Gärung und des Verfalls) opfert, kann jemals etwas von seinem Höheren Selbst - vom wahren Geist, der die Quelle allen Lebens ist - wissen.

   All' dies bereitete die Ankunft Christi vor, und es ist von höchster Bedeutung, daß es seine erste Handlung war, "Wasser in Wein zu verwandeln" (Ev. Joh. 2,11).

   Im geheimen lehrte er seinen Jüngern die Lehre von der Wiedergeburt. Er lehrte sie nicht nur in Worten, sondern er nahm sie "auf den Berg". Das ist eine mystische Bezeichnung und bedeutet eine Stätte der Einweihung. Im Laufe der Einweihung nahmen sie selbst wahr, daß die Wiedergeburt eine Tatsache ist, denn Elias erschien vor ihnen, und es wurde ihnen gesagt, daß er auch Johannes der Täufer sei. Christus selbst hatte ihnen vorher in nicht mißzuverstehenden Worten - als er von Johannes dem Täufer sprach - gesagt: "Das ist Elias, der wiederkommen sollte." Er wiederholte das öfter bei der Verklärungsszenerie: "Elias ist schon gekommen, aber sie erkannten ihn nicht und haben mit ihm getan, was sie wollten." Und darauf folgend heißt es, "daß sie begriffen, daß Er von Johannes dem Täufer spreche" (Matth. 17, 12-13).

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   Bei dieser Gelegenheit und auch bei den Unterredungen über die Wiedergeburt sagten sie Ihm, daß einige gedacht haben, Er sei Elias, und andere wieder, Er sei einer der Propheten, der wiedergeboren sei. Er befahl ihnen, es "keinem Menschen zu sagen" (Matth. 17,9; Luk. 9,21). Die Lehre sollte tausende von Jahren hindurch eine esoterische bleiben und nur wenigen Pionieren bekannt sein, die sich für dieses Wissen vorbereitet und zu dem Zustand der Entwicklung erhoben hatten, in dem diese Wahrheiten den Menschen wieder bekannt sein werden.

   Daß Christus die Wiedergeburt und das Gesetz der Ursache und Wirkung lehrte, wird wahrscheinlich an keiner anderen Stelle so deutlich gezeigt, wie im Gleichnis vom Blindgeborenen. Die Jünger fragten: "Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?" (Joh. 9,2).

   Hätte Christus nicht die Wiedergeburt und das Gesetz der Ursache und Wirkung gelehrt, so wäre die natürliche Antwort gewesen: "Unsinn! Wie kann ein Mensch gesündigt haben, ehe er geboren wurde und zur Strafe Blindheit über sich gebracht haben." Aber Christus antwortete anders. Er ist durch die Frage nicht überrascht, noch behandelt er sie als ungewöhnlich. Er zeigt dadurch, daß sie mit seinen Lehren in vollem Einklang steht. Er antwortete: "Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm."

   Die orthodoxe Auslegung ist, daß der Mann blind geboren wurde, damit Christus die Gelegenheit hatte, ein Wunder zu tun und seine Kraft zu zeigen. Es wäre sonderbar, wenn Gott - um seinen Ruhm zu vermehren - einen Menschen willkürlich zu vielen Jahren der Blindheit verdammen würde, nur damit er eines Tages seine Fähigkeiten "zur Schau stellen" könne. Einen Menschen, der so handelte, würden wir als ein Ungeheuer an Grausamkeit ansehen.

   Viel logischer ist die Annahme, daß eine andere Erklärung möglich sei! Gewiß ist es unvernünftig, Gott ein Benehmen

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beizumessen, das wir an einem Menschen in den stärksten Ausdrücken verdammen würden. Christus unterscheidet zwischen dem physisch blinden Körper des Menschen und dem innewohnenden Gott, der sein Höheres Selbst ist.

   Der dichte Körper hat keine Sünden begangen. Der innewohnende Gott, das Höhere Selbst (dessen sich dieser Mensch noch nicht bewußt war - d.Ü.), hat gewisse Handlungen zugelassen, die sich in der Folge durch das besondere, ihm zugemessene Gebrechen äußerten. Es ist kein überspannter Standpunkt, den Menschen einen Gott zu nennen. Paulus sagt: "Wißt ihr nicht, daß ihr Götter seid?" Und er bezieht sich auf den menschlichen Leib als den "Tempel Gottes", den Tempel des innewohnenden Geistes.

   Und schließlich, wenn auch die meisten Menschen sich ihrer früheren Leben nicht erinnern, so gibt es einige, die es tun, und alle könnten es wissen, vorausgesetzt, daß sie dazu das erforderliche Leben führten. Aber dieses Wissen bedarf großer Charakterstärke, denn es kann uns die Erkenntnis eines unabwendbaren Schicksals bringen, das schwarz und düster über uns hängt, um sich in einem furchtbaren Unheil zu äußern. Die Natur hat das Vergangene und das Zukünftige gnädig vor uns verborgen, damit wir unseren Seelenfrieden nicht durch das Vorgefühl der uns erwartenden Schmerzen verlieren. Wenn wir uns höher entwickeln, werden wir lernen, alle Erfahrungen des Lebens in gleicher Weise willkommen zu heißen. Wir werden in allen Leiden die Folge vergangenen Unrechts sehen und mit Dankbarkeit die Gelegenheiten begrüßen, durch die es gesühnt und ausgetilgt werden kann. Denn wir wissen, daß dann um so viel weniger zwischen uns und dem Tag der Befreiung vom Räderwerk der Geburt und des Todes steht.

   Stirbt ein Mensch in einem Leben als Kind, so erinnert er sich dieser Inkarnation nicht selten im nächsten Leben, denn

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Kinder unter 14 Jahren durchschreiten nicht den ganzen Lebenskreislauf, der zur Erbauung einer vollständigen Zahl neuer Träger erforderlich ist. Sie gehen einfach in die oberen Regionen der Empfindungswelt ein und warten hier auf eine neue Verkörperung, die gewöhnlich zwischen einem bis zu zwanzig Jahren nach dem Tod eintritt. Wenn sie sich wiederverkörpern, so bringen sie den alten Intellekt und Empfindungsleib mit sich, und wenn wir dem Geplauder der Kinder zuhörten, so könnten wir manchmal solche Geschichten wie die folgende entdecken und wiedergeben:

  

Eine bemerkenswerte Geschichte

   Eines Tages kam in Santa Barbara - in Kalifornien - ein Mann namens Roberts zu einem geschulten Hellseher, der auch Vorlesungen über Theosophie hielt, und bat ihn in einem verblüffenden Fall um Hilfe. Herr Roberts war am vorhergehenden Tag durch die Straßen gegangen, als ein kleines dreijähriges Mädchen auf ihn zukam, seine Arme um seine Knie legte und ihn mit Papa ansprach. Roberts war entrüstet, denn er glaubte, daß jemand versuchen wollte, ihm die Vaterschaft für das Kind aufzudrängen. Aber die Mutter des Kindes, die ihm unmittelbar folgte, war ebenfalls empört und versuchte, das Kind zu entfernen. Doch das Kind klammerte sich an ihn und bestand darauf, daß er sein Vater sei. Wegen später zu berichtender Umstände konnte R. den Vorfall nicht vergessen und suchte den Hellseher auf, der ihn zum Haus des Kindes begleitete, wo das kleine Mädchen sofort wieder auf Herrn R. zulief und ihn Papa nannte. Der Hellseher - den ich X. nennen will - nahm das Kind zuerst zum Fenster, um zu beobachten, ob die Iris des Auges sich zusammenziehen und ausdehnen würde, wenn er sie dem Licht zu- oder abwandte. Dadurch wollte er vorerst feststellen, ob ein anderes Wesen sich des Kindeskörpers bemächtigt habe, denn das Auge ist das Fenster der Seele, und kein Wesen, das "Besessenheit" verursacht hat, kann sich die Gewalt über das Auge sichern. Aber Herr X. fand, daß das Kind normal war und ging nun dazu über, die

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Kleine vorsichtig auszufragen. Nach einer geduldigen Arbeit - die mit Unterbrechungen den ganzen Nachmittag in Anspruch nahm - brachte sie folgende Geschichte hervor:

   Sie hatte mit ihrem Papa - Herrn Roberts - und einer anderen Mama in einem kleinen alleinstehenden Haus gelebt, von dem aus man kein anderes Gebäude sehen konnte. Gleich beim Haus floß ein kleiner Bach, an dem einige Blumen wuchsen (nach diesen Worten lief sie hinaus und brachte ein paar Weidenkätzchen herein). Über den Bach führte eine kleine Brücke, die zu Überschreiten man ihr verbot, damit sie nicht ins Wasser falle. Eines Tages hatte ihr Papa sie und ihre Mutter verlassen und war nicht mehr zurückgekehrt. Als ihre Nahrungsmittel zu Ende gingen, legte sich ihre Mama auf's Bett und wurde ganz still. Schließlich sagte sie ganz seltsam: "Dann starb auch ich, aber ich starb nicht, sondern kam hierher."

   Darauf erzählte Herr Roberts seine Geschichte. Vor 18 Jahren lebte er in London, wo sein Vater ein Brauer war. Er verliebte sich in eine Magd. Sein Vater wollte von der Verbindung nichts wissen, so zog er - nachdem sie geheiratet hatten - nach Australien. Hier ging er in den Busch und gründete eine kleine Farm, wo er eine niedrige Hütte an einem Bach erbaute, geradeso wie das Kind sie beschrieben hatte. Dort wurde ihnen eine Tochter geboren, und als sie ungefähr zwei Jahre alt war, verließ er eines Tages das Haus, um in einiger Entfernung Holz zu schlagen. Während dieser Arbeit kam ein Mann mit einem Gewehr auf ihn zu und nahm ihn im Namen des Gesetzes wegen eines Bankraubs gefangen, der sich in jener Nacht ereignet hatte, als Herr Roberts England verließ. Der Beamte hatte ihn bis hierher verfolgt, da er ihn für den gesuchten Verbrecher hielt. Herr Roberts bat um die Erlaubnis, zu Frau und Kind zu gehen. Der Beamte jedoch hielt dies für eine Falle, um ihn in die Hände von Komplizen auszuliefern. Deshalb verweigerte er ihm diesen Wunsch und trieb ihn mit Gewalt zur Küste. Er wurde nach England überstellt und vor Gericht gebracht, wo seine Unschuld erwiesen wurde.

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   Erst jetzt schenkten die Behörden seinem unaufhörlichen Sprechen über Frau und Kind Beachtung, die er in der wilden, einsamen Gegend dem Hungertod preisgegeben wußte. So sandte man eine Expedition zur Hütte, die allerdings nur noch die Skelette der Frau und des Kindes vorfand. Der Vater des Herrn Roberts war mittlerweile gestorben und hatte ihn enterbt. Doch sein Bruder teilte mit ihm, und er kam als gebrochener Mann nach Amerika.

   Dann zeigte er einige Fotos von sich und seiner Frau, die er auf den Rat des Herrn X. mit einer Anzahl anderer Bilder vermischte und dem kleinen Mädchen vorlegte, das ohne Zögern die Bilder ihrer angeblichen Eltern herausfand, obwohl sich das Aussehen des Herrn Roberts auf den gezeigten Bildern von seiner jetzigen Erscheinung vollkommen unterschied.


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