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Die
Rosenkreuzer-Weltanschauung
von
Max Heindel
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IV. Wiedergeburt und das Gesetz der Ursache und
Wirkung
Um das Rätsel des Lebens und des Todes
zu lösen, sind nur drei beachtenswerte Theorien aufgestellt worden.
Im vorhergehenden Kapitel ist eine dieser
drei Theorien, die der Wiederverkörperung und des sie begleitenden
Gesetzes von Ursache und Wirkung in gewissem Maß erörtert worden.
Es scheint angebracht, die Theorie der Wiederverkörperung mit den
beiden anderen Theorien zu vergleichen und dabei einen Blick auf ihre
relative Begründung in der Natur zu werfen.
Für den Okkultisten kann hier kein
Zweifel bestehen. Er sagt nicht daß er an die Theorie "glaubt",
ebenso wie wir nicht sagen, daß wir an das Blühen der Rose
oder an das Fließen des Baches "glauben", an Erscheinungen, die
sich ständig vor unseren Augen zutragen. Wir (die okkult Geschulten,
die bereits mindestens eine Einweihung durchschritten haben - d.Ü.)
sagen von diesen Dingen nicht daß wir "glauben", sondern wir "wissen",
weil wir sehen.
So kann der okkulte Wissenschaftler auch
dann "ich weiß" sagen, wenn es sich um die Wiederverkörperung,
um das Gesetz von Ursache und Wirkung und deren Begleiterscheinungen handelt.
Er sieht das Ego und kann seinen Pfad vom Augenblick seines Austritts
aus dem dichten Körper durch den Tod bis zum Augenblick seines Wiedererscheinens
auf der Erde durch eine neue Geburt verfolgen. Darum braucht er nicht
zu glauben. Aber zur Befriedigung der anderen mag es immerhin angebracht
sein, diese drei Theorien von Tod und Leben zu überprüfen, um
zu einem verstandesgemäßen Schluß zu kommen.
Jedes große Naturgesetz muß
unbedingt in Harmonie mit allen anderen Naturgesetzen stehen. Darum kann
es für den
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Fragenden von großem Nutzen sein,
diese Theorien auf ihr Verhältnis zu den allgemein anerkannten und
"bekannten Naturgesetzen" hin zu prüfen, die man in dem uns vertrauteren
Teil des Universums beobachtet. Zu diesem Endzweck wollen wir zuerst die
drei Theorien aufstellen.
1. Der Materialismus behauptet, daß das Leben
eine Reise vom Mutterschoß bis zum Grab sei, daß der Intellekt
das Resultat gewisser wechselseitiger Beziehungen innerhalb der Materie
sei, daß der Mensch die höchste Intelligenz im Weltganzen darstelle,
und daß diese Intelligenz zugrunde gehe, sobald sich der Körper
im Tod auflöse.
2. Die Theorie der Theologen behauptet, daß bei
jeder Geburt eine neugeschaffene Seele frisch aus der Hand Gottes in die
Arena des Lebens trete und aus einem unsichtbaren Zustand durch das Tor
der Geburt in eine sichtbare Existenz gelange; daß sie am Ende einer
kurzen Zeitspanne - die sie in der materiellen Welt verbringe - durch
das Tor des Todes in das unsichtbare Jenseits hinübergehe, von wo
sie niemals wiederkehre; daß ihr Glück oder Elend dort für
alle Ewigkeit durch ihre Taten während des winzigen Zeitraumes zwischen
Geburt und Tod bestimmt werde.
3. Die Theorie der Wiedergeburt lehrt, daß jede
Seele ein integrierter Bestandteil der Gottheit sei, der alle göttlichen
Eigenschaften entfalte, so wie sich aus dem Samen die Pflanze entwickle.
Sie lehrt, daß durch wiederholte Leben in immer besseren Erdenkörpern
die latenten Möglichkeiten sich langsam zu treibenden Kräften
entwikeln würden, daß bei diesem Vorgang niemand verloren gehe,
und daß alle Menschen am Ende das Ziel der Vollkommenheit und die
Wiedervereinigung mit Gott erreichen.
Die erste dieser drei Theorien ist monistisch.
Sie sucht alle Tatsachen des Daseins als Vorgänge innerhalb der Materie
zu erklären. Die anderen zwei Theorien stimmen darin
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überein, daß sie dualistisch sind, das heißt,
sie schreiben einen Teil der Existenz-Phasen und Existenz-Tatsachen einem
überphysischen, unsichtbaren Zustand zu, gehen aber in anderen Punkten
weit auseinander.
Vergleichen wir die materialistische Theorie
mit den bekannten Gesetzen des Universums, so finden wir, daß die
Fortdauer der Kraft ebenso besteht wie die Fortdauer der Materie, sie
beide bedürfen keiner Erläuterung. Wir wissen auch, daß
in der physischen Welt Kraft und Stoff untrennbar sind. Das widerspricht
aber der materialistischen Theorie, die behauptet, daß der Intellekt
beim Tod zugrunde geht.
Wenn nichts zerstört werden kann,
so muß auch der Intellekt inbegriffen sein. Mehr noch; wir wissen,
daß der Intellekt dem Stoff überlegen ist, denn er formt das
Antlitz, so daß es ein Abbild oder Spiegelbild des Intellekts wird.
Wir haben entdeckt, daß die Teilchen unseres Körpers fortwährend
wechseln; daß mindestens einmal in sieben Jahren jedes Atom der
Materie, welche diesen zusammensetzt, sich verändert. Wenn die materialistische
Theorie wahr wäre, so müßte auch das Bewußtsein
eine vollständige Veränderung durchlaufen, und es dürfte
keine Erinnerung irgendeines Ereignisses zurückbleiben, so daß
man sich zu keiner Zeit an irgend etwas länger als sieben Jahre erinnern
könnte. Wir wissen, daß dies nicht so ist.
Wir erinnern uns an die Ereignisse aus
unserer Kindheit. Viele ganz unbedeutende Vorfälle, die dem gewöhnlichen
Bewußtsein längst entschwunden waren, tauchen Ertrinkenden
in dem flüchtigen Überblick ihres Lebens deutlich auf, wovon
sie nach ihrer Wiederbelebung berichten. Ähnliche Erfahrungen sind
auch im Trancezustand ganz allgemein. Der Materialismus ist unfähig,
diese Zustände des Unter- und Überbewußtseins zu erklären,
daher beschäftigt er sich nicht damit. Bei dem gegenwärtigen
Stand (1909) der wissenschaftlichen Forschungen, wo führende Gelehrte
die Existenz dieser Erscheinungen außer jeden Zweifel stellten,
ist die Politik des Beiseiteschiebens ein ernster Faktor in einer Theorie,
die den Anspruch erhebt, das größte Rätsel des Lebens
zu lösen - das Leben selbst.
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Darum können wir uns von der materialistischen
Theorie - als vollkommen ungeeignet, das Mysterium des Lebens und des
Todes zu lösen - getrost abwenden und die nächste Theorie betrachten.
Einer der größten Einwände
gegen die orthodoxe theologische Lehre, wie sie ausgelegt wird, ist ihre
vollständige und anerkannte Unzulänglichkeit. Von den Myriaden
von Seelen, die geschaffen wurden und diesen Erdball bewohnt haben, seit
die Zeiten begannen (selbst vorausgesetzt, daß der Weltbeginn wirklich
nur um sechstausend Jahre zurückläge), soll nur die unbedeutende
Anzahl von "einhundertvierundvierzigtausend" gerettet werden! Der Rest
soll für ewige Zeiten gefoltert werden! Den größten Profit
dabei macht allezeit der Teufel. Man kann nicht umhin, mit Buddha zu sagen:
"Wenn Gott zuläßt, daß solches Elend besteht, so kann
er nicht gut sein, und wenn er nicht die Macht hat, es zu verhindern,
so kann er nicht Gott sein."
In der Natur ähnelt nichts einem solchen
Vorgehen, das erschafft, um Zerstörung folgen zu lassen. Es ist bezeichnend,
daß Gott ALLE zu retten wünscht und den Untergang keines einzigen
will, und daß Er zu ihrer Erlösung "seinen einzigen Sohn" gegeben
hat, und doch mißlang dieser "glorreiche Plan der Erlösung"!
Wenn ein transatlantisches Linienschiff
mit zweitausend Seelen an Bord eine drahtlose Meldung absetzen würde,
daß es bei Sandy Hook sinke, hielte man es wohl schwerlich für
einen "glorreichen Plan der Errettung (salvation)", ein schnelles Motorboot
zu entsenden, das nur zwei oder drei Menschen fassen kann. Es würde
viel eher als "Plan der Vernichtung" gelten, wenn man nicht passende Mittel
zur Rettung mindestens des größten Teiles der Gefährdeten
aufbrächte.
Viel schlimmer ist der Rettungsplan der
Theologen; denn zwei oder drei von zweitausend ist ein unverhältnismäßig
größerer Prozentsatz, als der orthodoxtheologische Ret-
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tungsplan, der von all den Myriaden geschaffener Seelen
nur 144 000 retten will. Wir können auch diese Theorie getrost als
unwahr zurückweisen, denn sie ist unvernünftig. Wenn Gott allweise
wäre, so hätte er einen wirksameren Plan erdacht. Und so war
es auch. Die eben angeführte Theorie ist eben nur die der Theologen.
Die Lehren der Bibel sind grundverschieden, wie sich später zeigen
wird.
Wir wenden uns nun der Betrachtung der
Lehre von der Wiedergeburt zu. Sie nimmt einen langsamen Entwicklungsvorgang
an, der aber mit aller Beharrlichkeit durch verschiedene Verkörperungen
in Körpern mit immer zunehmender Vervollkommnung vor sich geht, wodurch
alle sich mit der Zeit zur Höhe eines geistigen Glanzes entwickeln,
den wir jetzt noch nicht erfassen können. In einer solchen Theorie
gibt es nichts Unvernünftiges, nichts, was schwer anzunehmen wäre.
Blicken wir uns in der Natur um, so finden wir überall dieses langsame,
beharrliche Wachstum einer größeren Vollendung entgegen. Wir
finden keine plötzlichen Vorgänge der Erschaffung und Vernichtung,
wie die Theologen dies lehren. Wir finden aber überall Evolution.
Evolution ist "die Geschichte des Fortschrittes
des Geistes in der Zeit". Überall, wo wir die verschiedenartigen
Erscheinungen des Weltalls betrachten, ersehen wir, daß der Pfad
der Evolution eine Spirale ist. Jede Windung der Spirale ist ein Kreis.
Jeder Kreis mündet in den nächsten, gleich wie sich auch die
Windungen der Spirale fortsetzen. Jeder Kreis ist das verbesserte Produkt
derer, die ihm vorangingen und Schöpfer von noch weiter entwickelten
Zuständen, die ihm folgen.
Eine gerade Linie ist nur die Ausdehnung
eines Punktes. Sie nimmt im Raum nur eine einzige Dimension ein. Die Theorien
der Materialisten und der Theologen gleichen dieser Linie. Der Materialist
läßt die Lebenslinie bei der Geburt einsetzen und um folgerichtig
zu bleiben, muß die Todesstunde sie abschließen. Der Theologe
beginnt seine Linie mit der Erschaffung der Seele unmittelbar vor der
Geburt.
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Nach dem Tod soll die Seele weiterleben und ihr Schicksal
durch die Taten einiger weniger Erdenjahre unwiderruflich bestimmt sein.
Es soll keine Wiederkehr geben, um Fehler zu verbessern. Die Linie geht
geradeaus weiter und läßt ein geringes Maß an Erfahrung
und keine Erhebung der Seele nach dem Tod zu.
Der natürliche Fortschritt verfolgt
keine gerade Linie, so wie diese beiden Theorien es annehmen. Er verfolgt
auch keinen kreisförmigen Weg, denn dieser würde einen unendlichen
Kreislauf derselben Erfahrungen und die Anwendung von nur zwei Raumausdehnungen
bedeuten. Alle Dinge bewegen sich in fortschreitenden Zyklen. Damit wir
den größten Vorteil aus all den Gelegenheiten ziehen können,
die uns durch unser dreidimensionales Universum geboten werden, sollte
das sich entwikelnde Leben dem dreidimensionalen Pfad - der Spirale -
folgen, der immer vorwärts und aufwärts führt.
Ob wir nun eine der bescheidenen kleinen
Pflanzen in unserem Garten ansehen oder im "redwood district" Kaliforniens
einen der Küsten-Mammutbäume mit seinem Durchmesser von nahezu
12 Metern untersuchen, es bleibt immer dasselbe: jeder Zweig, jeder Ast,
jedes Blatt wächst entweder in einer einfachen oder in einer doppelten
Spirale oder in einander gegenübergestellten Paaren, wo jedes dem
anderen das Gleichgewicht hält, wie Ebbe und Flut, Tag und Nacht,
Leben und Tod und andere einander ablösende Naturtätigkeiten.
Untersuche den gewölbten Himmelsbogen
mit den feurigen Urnebelmassen oder den Weg des Sonnensystems: Überall
begegnet das Auge der Spirale. Im Frühjahr wirft die Erde ihre weiße
Decke ab und geht aus ihrer Ruhezeit - aus ihrem Winterschlaf - hervor.
Sie setzt alle ihre Kräfte in Bewegung, die überall neues Leben
hervorbringen. Die Zeit vergeht, Korn und Trauben werden geerntet, und
wieder verschwindet der tätige Sommer in der Stille und Untätigkeit
des Winters. Wieder umhüllt die Schneedecke die Erde. Aber ihr Winterschlaf
ist nicht ewig, denn sie wird wieder zum Gesang des
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neuen Frühlings erwachen, der für sie einen
kleinen Fortschritt auf dem Pfad der Zeit bedeutet.
Ebenso die Sonne. Sie geht am Morgen jeden
Tages auf, aber jeden Morgen hat sie ein Stück auf ihrer Jahresreise
zurückgelegt.
Überall die Spirale - vorwärts,
aufwärts, in Ewigkeit!
Ist es denn möglich, daß dieses
in allen Reichen wirksame Gesetz für das Leben des Menschen nicht
gelten sollte? Soll die Erde jedes Jahr von ihrem Winterschlaf erwachen,
soll der Baum und die Blume wieder leben und der Mensch sollte sterben?
Das kann nicht sein! Dasselbe Gesetz, welches das Leben in der Pflanze
zu neuem Wachstum erweckt, wird das menschliche Wesen zu neuen Erfahrungen,
zu weiteren Fortschritten erwecken und es so dem Ziel der Vervollkommnung
entgegenführen. Deshalb befindet sich die Theorie der Wiedergeburt,
die wiederholte Verkörperung in ständig sich bessernden Trägern
lehrt, in völliger Übereinstimmung mit der Evolution und den
Erscheinungen der Natur. Das ist bei den beiden anderen Theorien nicht
der Fall.
Wenn wir das Leben vom ethischen Gesichtspunkt
aus betrachten, werden wir finden, daß das Gesetz der Wiedergeburt
in Verbindung mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung, die einzige Theorie
ist, die unser Gerechtigkeitsgefühl im Einklang mit den um uns herum
wahrzunehmenden Tatsachen des Lebens befriedigt.
Für einen logischen Intellekt ist
es nicht leicht zu verstehen, wie ein "gerechter und liebevoller" Gott
dieselben Tugenden von all den Milliarden verlangen kann, die er nach
nicht offenbarter Regel und nicht erkennbarem System, doch wohl oder übel
entsprechend seiner eigenen launenhaften Stimmung "nach Belieben (pleased)
in unterschiedliche Verhältnisse verteilt hatte". Der eine lebt im
Luxus, der andere "von Tritten und Krusten". Einer hat eine moralische
Erziehung und lebt in einer Atmosphäre hoher Ideale. Der andere muß
in unsauberer Umgebung leben. Er wird zum Lügen und Stehlen angeleitet,
und je mehr er darin leistet, um so größer ist sein Erfolg.
Ist es gerecht, von beiden dasselbe zu verlangen? Ist es gerecht, den
einen für ein gutes
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Leben zu belohnen, wenn er sich in Lebensumständen
befindet, die ihm ein Abirren vom rechten Weg außerordentlich schwer
machen, oder den anderen zu bestrafen, der so stark belastet wurde, daß
er niemals auch nur erkennen konnte, was wahre Sittenreinheit bedeutet?
Sicher nicht! Ist es nicht logischer zu denken, daß wir die Bibel
schlecht ausgelegt haben könnten, als Gott einen so ungeheuerlichen
Plan und eine so absurde Handlungsweise zur Last zu legen?
Es ist nutzlos zu sagen, daß wir
nach den Mysterien Gottes nicht fragen sollen, daß sie über
unserem Fassungsvermögen stehen. Die Ungleichheiten des Lebens können
zufriedenstellend aus dem Zwillingsgesetz der Wiedergeburt und der Ursache
und Wirkung erklärt werden, und sie stehen dann in Harmonie mit der
Annahme eines gerechten und weisen Gottes, wie Christus es selbst gelehrt
hat.
Außerdem zeigt sich durch diese Zwillingsgesetze
auch ein Weg, uns aus gegenwärtigen unerwünschten Lagen oder
Umgebungen - wie gezeigt wurde - zu befreien; zugleich geben sie uns auch
die Mittel, jeden beliebigen Entwicklungsgrad zu erreichen, einerlei wie
unvollkommen wir jetzt auch noch sein mögen.
Was wir sind, was wir haben, alle unsere
guten Eigenschaften, sind das Ergebnis unserer vergangenen Taten. Was
uns jetzt noch an physischen, moralischen oder intellektuellen Gaben fehlt,
können wir uns in Zukunft aneignen.
Genau so, wie wir unser Leben jeden Morgen
dort wieder aufnehmen müssen, wo wir es am vorhergehenden Abend beendet
haben, so haben wir auch durch unsere früheren Leben die Bedingungen
geschaffen, unter denen wir jetzt leben und wirken, und wir schaffen gegenwärtig
die Bedingungen für unsere künftigen Leben. Statt den Mangel
irgendeiner Fähigkeit - nach der wir begehren - zu beklagen, müssen
wir an uns arbeiten, um sie zu erwerben.
Wenn ein Kind auf einem Musikinstrument
mühelos spielen lernt, während ein anderes trotz beharrlicher
Anstrengungen im Vergleich dazu nur ein Stümper bleibt, zeigt dieser
Unterschied nur, daß das eine im vergangenen Leben viel Mühe
anwandte und nun eine frühere Fertigkeit leicht
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wiedergewinnt, während das andere mit seinem Streben
erst in diesem Leben begonnen hat. Infolgedessen sehen wir sein mühevolles
Üben.
Aber der weniger Tüchtige kann - vorausgesetzt,
daß er beharrlich danach strebt - es in diesem Leben sogar weiter
bringen, als der erstere, wenn dieser nicht beständig an sich arbeitet.
Daß wir uns nicht der harten Anstrengungen
zur Erlangung einer Fähigkeit erinnern, ist ohne Bedeutung; es ändert
nichts an der Tatsache, daß uns die Fähigkeit bleibt.
Genialität ist das Kennzeichen einer
fortgeschrittenen Seele, die sich durch harte Arbeit in vergangenen Leben
in irgendeiner Richtung über das Durchschnittsmaß der Rasse
hinaus entwickelt hat. Es gibt uns eine Vorstellung von dem Grad der Vollkommenheit,
der in der kommenden Rasse Allgemeinbesitz sein wird.
Das Genie kann nicht durch die Theorie
der Vererbung erklärt werden, die sich auf den dichten Körper
nur zum Teil, auf die Eigenschaften der Seele aber gar nicht anwenden
läßt. Wenn die Erblichkeit die Grundursache des Genies wäre,
warum hat dann Thomas Edison nicht eine lange Reihe von Vorfahren, von
denen jeder geschickter war, als der vorhergehende? Warum vererbt sich
die Anlage nicht? Warum ist Siegfried, der Sohn, nicht größer
als Richard Wagner, der Vater?
In dem Fall, wo die Entfaltung des Genies
auf dem Besitz besonders gebauter Organe beruht, die ganze Leben zu ihrer
Entwicklung brauchen, verkörpert sich das Ego selbstverständlich
in einer Familie, deren Egos durch Generationen bestrebt waren, ähnliche
Organe zu schaffen. Das ist der Grund, warum sich in der Familie Bach
während 250 Jahren 29 Musiker von größerem oder geringerem
Genius verkörperten. Aus der Tatsache, daß diese Genialität
sich nicht allmählich entwickelte, um in der Person des Johann Sebastian
Bach ihren Höhepunkt zu finden, sondern daß dessen Genialität,
sowohl die seiner Vorfahren als auch die seiner
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Nachkommen weit überragte, geht klar hervor, daß
das Genie eine Äußerung der Seele und nicht des Körpers
ist.
Der Körper ist ganz einfach nur ein
Instrument, und die Arbeit, die er leistet, hängt vom Ego ab, das
ihn leitet, so wie die Art der Melodie von der Geschicklichkeit des Musikers
abhängt und durch den Klang des Instrumentes nur unterstützt
wird. Ein guter Musiker kann sich auf einem armseligen Instrument nicht
vollständig ausdrücken, und selbst auf ein und demselben Instrument
werden und können nicht alle Musiker in gleicher Weise spielen.
Wenn sich ein Ego als der Sohn eines großen
Musikers inkarniert, so ist damit nicht gesagt, daß er ein noch
größeres Genie sein müsse. Dieses müßte aber
unbedingt so sein, wenn Genialität physisch erblich und nicht eine
Eigenschaft der Seele wäre.
Das "Gesetz der Anziehung" erklärt
die Tatsachen, die wir der Vererbung zuschreiben, in vollkommen hinreichender
Weise. Wir wissen, daß Menschen, die gleiche Interessen besitzen,
einander suchen. Wenn ein Freund mit uns in einer Stadt wohnt, uns seine
Adresse aber unbekannt ist, so werden wir ihn anhand seiner gesellschaftlichen
Gepflogenheiten leicht finden. Wenn er Musiker ist, so wird er sicher
dort zu finden sein, wo sich Musiker gewöhnlich versammeln; ist er
Student, so wird man in Bibliotheken, Lesehallen und Bücherläden
nachfragen, liebt er es zu wetten oder zu spielen, würden wir ihn
beim Pferderennen, in Billardräumen oder ähnliche Orte besuchen
und wir können sicher sein, daß ein Suchen des Wettliebhabers
in der Bibliothek oder in einem klassischen Konzert vergeblich wäre.
Gleicherweise neigt das Ego gewöhnlich
zu verwandter Verbindung. Es wird dann durch eine der Zwillingskräfte
der Empfindungswelt - durch die Kraft der Anziehung - angetrieben.
Man kann den Einwand erheben, daß
wir in derselben Familie Menschen mit grundverschiedenen Interessen, ja
selbst Feinde finden und wie ist es dann möglich, daß das
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Gesetz der Anziehung solche Menschen zusammenführen
konnte? Die Erklärung für diese Erscheinung liegt darin, daß
während eines Erdenlebens viele Verbindungen mit verschiedenen Menschen
angeknüpft wurden. Diese Verbindungen waren teils angenehmer, teils
unangenehmer Natur. Sie schlossen Verpflichtungen ein, die zu gegebener
Zeit nicht eingelöst wurden, oder sie ließen eine Beleidigung
zu und entwickelten ein sehr starkes Haßgefühl zwischen dem
Beleidigten und seinem Feind. Das Gesetz der Ursache und Wirkung verlangt
einen genauen Ausgleich.
Der Tod "bezahlt nicht alles", ebensowenig
wie die Übersiedlung in eine andere Stadt eine Geldesschuld tilgt.
Es kommt die Zeit, in der sich die beiden Feinde wieder begegnen müssen.
Der alte Haß zieht sie in dieselbe Familie, denn Gottes Absicht
ist, daß alle einander lieben sollen; darum muß der Haß
in Liebe verwandelt werden. Wenn Menschen vielleicht auch viele Leben
damit verbringen, um ihre Feindschaft "auszufechten", so werden sie endlich
doch die Lehre erfassen und Freunde und gegenseitige Wohltäter werden,
anstatt sich zu bekämpfen. In solchen Fällen erweckte das Interesse,
das diese Menschen aneinander hatten, die Kraft der Anziehung, weshalb
sie zusammengeführt wurden. Wären sie sich gleichgültig
gewesen, so wären sie miteinander nicht in Verbindung gekommen.
So lösen die Zwillingsgesetze der
Wiedergeburt und der Ursache und Wirkung gründlich alle Probleme,
die dem Leben des Menschen anhängen, während er langsam aber
sicher der nächsten Stufe der Evolution - der des Übermenschen
- zuschreitet.
Die Theorie besagt, daß der Weg des
menschlichen Fort- schritts immer vorwärts und aufwärts führt.
Einige indische Stämme stellen sich die Lehre von der Wiedergeburt
fälschlich so vor, als ob der Mensch sich in Tieren und Pflanzen
wiederverkörpern würde. Das entspricht nicht den Tatsachen.
Das wäre ein Rückschritt. In der Natur kann für diese Lehre
des Rückschritts kein Nachweis gefunden werden und ebensowenig in
den heiligen Büchern einer der verschiede-
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nen Religionen. In einer (und nur in einer) indischen
religiösen Schrift wird diese Lehre berührt. In den Kathupanishaden
(Kap. 5,9) wird gesagt, daß "einige Menschen ihren Taten entsprechend
in den Mutterleib eingehen, andere in den 'sthanu'".
"Sthanu" ist ein Sanskritwort, das sowohl
"bewegungslos", als auch "Säule" bedeutet und wurde so interpretiert,
als ob manche Menschen wegen ihrer Sünde in das unbewegliche Pflanzenreich
zurückkehren.
Die Geister verkörpern sich nur, um
Erfahrungen zu sammeln, um die Welt zu besiegen, um das niedere Selbst
zu überwinden und Selbst- Beherrschung zu erlangen. Wenn wir darüber
nachdenken, so begreifen wir, daß eine Zeit kommen muß, in
der wir weiterer Verkörperungen nicht mehr bedürfen, weil alle
Lehren erlernt sind. Die Lehre der Kathupanishaden sagt, daß, statt
an die Räder der Geburt und des Todes gebunden zu sein, der Mensch
eines Tages in den Zustand des "Nirvana" eingehen werde.
Im Buch der Offenbarungen finden wir folgende
Worte: "Den, der überwindet, will ich zu einer Säule im Tempel
meines Gottes machen, und er wird nicht mehr hinausgehen", was sich auf
die endgültige Befreiung von konkreter Existenz bezieht. Nirgends
finden wir einen Beweis für die Seelenwanderung. Ein Mensch, der
eine individuelle, seperate Seele entwikelt hat, kann auf dem Wege des
Fortschritts nicht mehr umkehren und in die Träger der Tiere und
Pflanzen eintreten, die unter einem Gruppengeist stehen. Der individuelle
Geist befindet sich auf einer höheren Entwicklungsstufe als der Gruppengeist,
und das Geringere kann nicht das Größere enthalten.
Oliver Wendel Holms gibt in seinem schönen
Gedicht "Die Kammern des Nautilus" der Idee eines beständigen Fortschrittes
in nach und nach besser werdenden Trägern und einer endlichen Befreiung
Ausdruck. Der Nautilus baut seine
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spiralförmige Schale in begrenzten Abteilungen
und verläßt immer die kleineren, denen er entwachsen ist.
Des Tieres stilles Werk, so schimmernd klar,
geschah hier Jahr um Jahr.
Doch keine Windung faßt
Im nächsten Jahr den unruhvollen Gast,
Er stahl sich durch des Bogenganges Glast,
Er baut sein müß'ges Tor.
Wuchs mit dem neuen Heim, das alte er verlor.
Armselig Kind der sturmbewegten Flut!
Dein unverzagter Mut
Mir Himmelsbotschaft bringt.
Ein rein'rer Ton sich deinem Mund entringt,
Dem stummen, als aus Tritons Horn erklingt!
Mir tönt in deinem Wort
Gedankentiefen zwingend, eine Stimme fort:
Die nied're Wölbung der Vergangenheit
Im Lauf der flücht'gen Zeit
Verlaß, o Seele mein!
Laß jeden Tempel edler, größer sein,
Durch weit're Bogen sieh des Himmels Schein,
Den Weg zur Freiheit geh.
Die enge Hülle bleibe an des Lebens wilder See.
Die oben erwähnte Notwendigkeit, einen
Organismus von besonderer Beschaffenheit zu erhalten, bringt uns eine
interessante Phase der Zwillingsgesetze, den Gesetzen der Wiedergeburt
und der Ursache und Wirkung, in Erinnerung. Diese Gesetze stehen mit der
Bewegung der Himmelskörper, der Sonne, der Planeten und Tierkreiszeichen
in Verbindung. Alle bewegen sich harmonisch nach diesen Gesetzen. Die
Planeten werden auf ihren Bahnen von den innewohnenden geistigen Intelligenzen
- den Planetengeistern - gelenkt.
Auf Grund des Vorrückens des Äquinoktiums
bewegt sich die Sonne rückläufig durch die zwölf Zeichen
des Tierkreises mit der Schnelligkeit von ungefähr einem Bogengrad
in 72 Jahren und durch jedes Zeichen (30 Grade) in ungefähr 2.100
Jahren oder um den ganzen Kreis herum in ungefähr
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26.000 Jahren. Dies hat seinen Grund darin, daß
sich die Erde nicht um eine feste Achse bewegt. Ihre Achse hat eine langsame,
schwingende Bewegung, die dem Wanken eines Brummkreisels gleicht, der
beinahe mit seiner Kraft am Ende ist. So beschreibt sie einen Kreis im
Raum, wobei ein Stern nach dem andern zum Polarstern wird.
Durch diese schwankende Erdbewegung kreuzt
die Sonne den Äquator nicht jedes Jahr an derselben Stelle, sondern
einige hundert Meter weiter rückwärts. Daher der Name "Präzession
der Äquinoktien", weil das Äquinoktium "vorrückt", also
zu früh kommt.
Alle Ereignisse auf der Erde, die mit den
anderen Himmelskörpern und deren Bewohnern zusammenhängen, sind
mit dieser und weiteren kosmischen Bewegungen verknüpft. Dasselbe
gilt von den Gesetzen der Wiedergeburt und der Ursache und Wirkung.
Wie die Sonne im Lauf des Jahres die verschiedenen
Zeichen des Zodiak durchläuft, beeinflussen der Wechsel des Klimas
und andere Veränderungen den Menschen und seine Tätigkeit auf
verschiedene Art und Weise. Ähnlich ruft der Lauf der Sonne durch
die zwölf Tierkreiszeichen - der durch Präzession hervorgerufen
wird und den man das Weltenjahr nennt - auf der Erde Veränderungen
von noch viel größerer Mannigfaltigkeit hervor. Zum Seelenwachstum
ist unbedingt erforderlich, daß alle damit verbundenen Erfahrungen
vom Menschen durchlebt werden. Die Bedingungen werden tatsächlich,
wie wir gesehen haben, in der himmlischen Welt zwischen den Geburten vom
Menschen selbst vorbereitet.
Darum wird jedes Ego, während die
Sonne ein Zeichen durchläuft, mindestens zweimal geboren. Die Seele
selbst ist zweigeschlechtig. Damit sie nun alle Erfahrungen machen kann,
verkörpert sie sich abwechselnd in einem männlichen und in einem
weiblichen Körper, denn die Erfahrungen der
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beiden Geschlechter weichen sehr voneinander ab. Während
einer Zeit von 1000 Jahren ändern sich die äußeren Bedingungen
nicht wesentlich und erlauben dem Geist die Aufnahme der Erfahrungen in
derselben Umgebung sowohl vom männlichen als auch vom weiblichen
Standpunkt aus.
Das sind allgemeine Grundsätze, nach
denen das Gesetz der Wiedergeburt vor sich geht, aber da es kein blindes
Gesetz ist, so unterliegt es häufigen Abänderungen, die durch
die Herren des Schicksals - die Engel der Chronik - bestimmt werden. Nehmen
wir an, es handle sich um ein Individuum, das ein empfindsames Auge oder
Ohr benötigt. Nun würde sich ihm eine Gelegenheit bieten, sich
innerhalb einer Familie zu verkörpern, mit der es früher Beziehungen
aufgebaut hatte, und die ihm gleichzeitig jene Voraussetzungen bieten
könnte, die zur Ausbildung dieser feinen Instrumente erforderlich
sind. Es können aber an der Zeit für die kommende Wiederverkörperung
vielleicht noch 200 Jahre fehlen. Erkennen jedoch die Herren des Schicksals,
daß das Ego, ohne diese Gelegenheit zu ergreifen, weitere 400 oder
gar 500 Jahre über die durchschnittliche Zeit hinaus verstreichen
lassen müßte, so kann es vorzeitig zur Wiedergeburt kommen.
Es wird die so verkürzte Zeit im dritten Himmel zu einer anderen
Zeit wieder einbringen können. So sehen wir, daß uns nicht
nur die Abgeschiedenen vom Himmel aus beeinflussen, sondern daß
auch wir sie beeinflussen, indem wir sie anziehen oder abstoßen.
Eine günstige Gelegenheit zur Erlangung eines geeigneten Instruments
kann ein Ego zur Wiedergeburt verlocken. Hätte sich kein brauchbares
Instrument gefunden, so wäre es länger im Himmel geblieben,
und die überschüssige Zeit wäre ihm von seinem künftigen
himmlischen Leben abgezogen worden.
Das Gesetz der Ursache und Wirkung arbeitet
in Harmonie mit den Sternen, so daß ein Mensch zu einer solchen
Zeit geboren wird, in der die Stellung der Himmelskörper im Sonnensystem
die benötigten Bedingungen für seine Erfahrungen und seinen
Fortschritt in der Schule des Lebens gewähren. Aus diesem Grund ist
die Astrologie eine absolut wahre Wissenschaft, obwohl selbst die besten
Astrologen sie falsch interpretieren können, da sie - wie alle menschlichen
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Wesen - irren können. Die Sterne zeigen mit unfehlbarer
Sicherheit die Zeit im Leben des Menschen an, welche die Herren des Schicksals
zur Begleichung seiner Schuld für ihn gewählt haben, und ein
Entrinnen ist dem Menschen unmöglich. Ja, sie zeigen dies bis auf
den Tag genau, obwohl wir nicht immer fähig sind, dies zu erkennen.
Das vielleicht auffallendste Beispiel,
das dem Verfasser über dieses Nicht-entrinnen-können, selbst
wenn man vollkommene Kenntnis davon hat, bekannt ist, ereignete sich im
Jahre 1906 in Los Angeles, in Kalifornien. Herrn L., einem wohlbekannter
Lehrer, waren einige Belehrungen in Astrologie gegeben worden. Man stellte
Herrn L. sein Horoskop, weil ein Schüler sich für sein eigenes
natürlich mehr interessiert, als für das eines Fremden. Auch
kann er die Genauigkeit der Darstellungen kontrollieren.
Das Horoskop zeigte eine Neigung zu Unglücksfällen,
und die Ereignisse in der Vergangenheit stimmten mit der angegebenen Zeit
des Geschehens überein. Außerdem wurde ihm vorausgesagt, daß
ihm ein weiterer Unglücksfall bevorstehe, der sich am 21. Juli oder
am 7. Tag danach, also am 28. Juli ereignen würde; das letztgenannte
Datum sei das gefährlichere. Er wurde vor Fahrgelegenheiten aller
Art gewarnt; die Verletzungen würden Brust, Arme, Schultern und den
unteren Teil des Kopfes betreffen. Er war von der Gefahr vollkommen überzeugt
und versprach, an dem betreffenden Tag daheim zu bleiben.
Der Autor reiste nach Norden, nach Seattle,
und schrieb ein paar Tage vor der kritischen Zeit an Herrn L., um ihn
nochmals zu warnen. Herr L. antwortete, daß er sich an die Warnung
erinnere und sich danach richten würde.
Die nächste Nachricht in dieser Angelegenheit
kam von einem beiderseitigen Freund, der schrieb, daß Herr L. am
28. Juli 1906 mit der Straßenbahn nach Sierra Madre gefahren war
und der Wagen mit einem Eisenbahnzug zusammengestoßen sei, wobei
Herr L. sich die Verletzungen genau wie vorausgesagt zuzog; es wurde ihm
auch eine Sehne des linken Fußes durchtrennt.
Die Frage war, warum Herr L., der vollstes
Vertrauen in die Voraussagung setzte, jenen Rat mißachtete. Nach
drei
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Monaten - als er wieder soweit genesen war, um schreiben
zu können - kam die Erklärung. Der Brief lautete: "Ich dachte,
der 28. sei der 29."
Für den Autor steht außer Frage,
daß es sich um einen Fall von "reifem" Schicksal handelte, das durch
die Sterne mit vollkommener Genauigkeit vorherbestimmt war, und vor dem
es kein Entrinnen gab.
Darum kann man die Sterne "die Uhr des
Schicksals" nennen. Die zwölf Zeichen entsprechen dem Zifferblatt,
die Sonne und die Planeten dem Stundenzeiger, der das Jahr bezeichnet,
und der Mond dem Minutenzeiger, der die Monate anzeigt, wenn die verschiedenen
Posten in der Rechnung des reifen Schicksals, das jedem Leben zugeteilt
ist, zur Bezahlung kommen müssen.
Und doch kann nicht stark genug betont
werden, daß, wenn der Mensch auch verschiedenen Dingen nicht entgehen
kann, er einen gewissen Spielraum für seinen freien Willen besitzt,
um bereits in Gang befindliche Ursachen abzuändern.
Ein Dichter schrieb darüber folgendes:
"Ein Wind ist's, der das Schiff bewegt,
Ob nach Ost oder West es schwimmt,
Nicht der Sturm, der weht, - wie das Segel steht,
Das allein die Fahrt bestimmt.
Des Schicksals Gewalt gleicht dem Wind der See
Auf des Daseins bewegter Flut,
Sei es laut oder still, - unseres Lebens Ziel
Nimmt die Seele in eigene Hut."
Was haben ganz besonders zu erfassen, daß
unser gegenwärtiges Handlungen künftige Bedingungen bestimmt.
Orthodox Religiöse und selbst jene,
die gar keine Religion anerkennen, führen als stärkstes Argument
gegen das Gesetz der Wiedergeburt oft an, daß es den "unwissenden
Heiden" in Indien gelehrt werde, die daran glauben. Wenn es aber ein Naturgesetz
ist, so ist kein Einwand stark genug, es zu verletzen oder gar unwirksam
zu machen. Ehe wir von "unwissenden Heiden" sprechen oder ihnen Missionare
senden, würden wir gut tun, unsere eigenen Kenntnisse ein
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wenig zu prüfen. Überall klagen die Erzieher
über die Oberflächlichkeit ihrer Schüler. Professor Wilbur
L. Groß aus Yale führt unter verblüffenden Fällen
von Unwissenheit an, daß in einer Klasse von 40 Studenten nicht
einer wußte, wo er Judas Ischariot einordnen sollte!
Sinnvoller dürfte es sein, die Arbeit
von Missionaren in "heidnischen" Ländern und Elendsvierteln umzulenken,
und sie die Studenten der Hochschulen unseres eigenen Landes aufklären
zu lassen. Dies entspräche dem Grundsatz, daß "Nächstenliebe
zu Hause beginnt" und "Gott die unwissenden Heiden nicht umkommen lassen
wird". Es wäre besser, sie in der Unwissenheit zu lassen, mit der
sie des Himmels sicher sind, als sie zu "erleuchten" und damit ihre Aussichten
zu vermehren, in der Hölle zu enden. Dies ist gewiß einer der
Fälle, von "wo Unwissenheit ein Segen ist, ist Wissen eine Torheit".
Wir würden uns und den Heiden einen ausgezeichneten Dienst erweisen,
wenn wir sie sich selbst überließen und uns um unsere unwissenden
Christen hier zu Hause kümmerten. Ferner, die Lehre von der Wiedergeburt
als eine heidnische zu bezeichnen, widerlegt sie nicht. Ihre angenommene
Bedeutung im Osten ist ebensowenig ein Beweis gegen sie, wie die Genauigkeit
der Lösung einer mathematischen Aufgabe nicht dadurch ungültig
wird, daß wir zufällig den Menschen, der sie zuerst fand, nicht
schätzen. Die einzige Frage ist: "Ist sie richtig?" Und wenn sie
es ist, dann ist es vollkommen bedeutungslos, von wem die erste Lösung
ausging.
Alle anderen Religionen hatten zur christlichen
Religion hinzuleiten. Sie waren Rassenreligionen und enthalten nur teilweise
das, was das Christentum in größerem Maß enthält.
Das wahre esoterische Christentum wurde bis jetzt noch nicht öffentlich
gelehrt. Es wird auch nicht öffentlich gelehrt werden, ehe nicht
die Menschheit den materialistischen Zustand überwunden hat und fähig
ist, es aufzunehmen. Die Gesetze der Wiedergeburt und der Ursache und
Wirkung sind allezeit im Geheimen gelehrt worden. Durch Christi eigenes
Gebot hat, wie wir später erfahren werden, in den letzten 2000 Jahren
in der westlichen Welt keine öffentliche Belehrung stattgefunden.
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Der Wein als ein Faktor in der Evolution
Um den Grund dieser Unterlassung und die
Mittel, die diese Lehre verschleiern sollten, zu verstehen, müssen
wir zum Anfang der menschlichen Geschichte zurückgehen und betrachten,
wie sie zu ihrem Heil von großen Lehrern der Menschheit geleitet
worden ist.
In den Lehren der okkulten Wissenschaft
zerfallen die Entwicklungsabschnitte auf der Erde in Zeiträume, die
wir "Epochen" nennen. Es gab deren 4: die polarische, die hyperboreische,
die lemurische und atlantische. Die gegenwärtige Epoche heißt
die arische.
In der ersten oder polarischen Epoche hatte
die gegenwärtige Menschheit nur einen dichten Körper, wie ihn
die Mineralien jetzt besitzen. Er war ihnen daher ähnlich.
In der zweiten oder hyperboreischen Epoche
kam ein Lebensleib hinzu, und der werdende Mensch hatte einen Körper,
wie er jetzt den Pflanzen eigen ist. Er war keine Pflanze, wohl aber ihr
ähnlich.
In der dritten oder lemurischen Epoche
erhielt er einen Empfindungsleib und war zusammengesetzt wie das Tier:
ein Tiermensch.
In der vierten oder atlantischen Epoche
entwickelte sich der Intellekt, und, soweit seine Träger in Betracht
kommen, tritt er heute als MENSCH auf die Bühne des physischen Lebens.
In der gegenwärtigen, der fünften
oder arischen Epoche wird der Mensch in gewissem Grad den dritten oder
niedersten Aspekt seines dreifachen Geistes entfalten - das Ego.
Der Schüler möge sich gründlich
einprägen, daß im Entwicklungsprozeß, bis zu jener Zeit,
in welcher der Mensch Selbstbewußtsein erlangte, dem Zufall absolut
nichts überlassen blieb.
Nach der Gewinnung des Selbstbewußtseins
bleibt dem Menschen ein gewisser Spielraum zur Anwendung seines
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persönlichen Willens, um ihn seine
göttlichen Geisteskräfte entfalten zu lassen.
Die großen Führer der Menschheit
ziehen alles in Betracht, auch die Nahrung des Menschen, denn sie hat
viel mit seiner Entwicklung zu tun. "Sage mir, was du ißt, und ich
sage dir, wer du bist", stammt nicht von weit her, sondern ist eine große
Wahrheit der Natur.
Der Mensch der ersten Epoche war ätherisch.
Das widerspricht der Feststellung, daß er mineralisch gewesen sei,
durchaus nicht, denn alle Gase sind mineralisch. Die Erde war noch weich,
sie war noch nicht erstarrt. Die Bibel nennt den Menschen Adam, und es
ist gesagt, daß er aus Erde gemacht worden war.
Kain wird als ein Ackerbauer geschildert.
Er symbolisiert den Menschen der zweiten Epoche. Er hatte einen Lebensleib
wie die Pflanzen, die ihn ernährten.
In der dritten Epoche wurde die Nahrung
vom lebenden Tier bezogen, um die frühere Pflanzennahrung zu ergänzen.
Milch war das Mittel, um den Empfindungsleib zu entwikeln, der den Menschen
dieser Zeit tierähnlich machte. Das wurde mit der Behauptung in der
Bibel "Abel war ein Schäfer" gemeint. Doch wird nirgends behauptet,
daß er Tiere tötete.
In der vierten Epoche hatte sich der Mensch
über das Tier hinaus entwickelt, er besaß nun einen Intellekt.
Die Gedanken zerstören die Nervenzellen, sie töten und verursachen
Verfall. Analog dazu bestand deshalb die Nahrung des Atlantiers aus Fleisch
von Tieren. Er tötete, um zu essen, und das ist, warum die Bibel
behauptet, daß "Nimrod ein mächtiger Jäger" gewesen sei.
Nimrod repräsentiert den Menschen der vierten Epoche.
Mittlerweile war der Mensch tiefer und
tiefer in die Materie hinabgestiegen. Sein früherer Lebensleib bildete
das Skelett im Inneren und war fest geworden. Er hatte auch stufenweise
die unmittelbare geistige Wahrnehmungskraft verloren, die er in früheren
Epochen besaß, so war es
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bestimmt. Er ist berufen, diese Wahrnehmungsgabe auf
einer höheren Stufe zurückzuerhalten, bereichert um das Selbstbewußtsein,
das er damals nicht besaß. Während der ersten vier Epochen
hatte er aber eine umfassendere Kenntnis der geistigen Welt. Er wußte,
daß er nicht starb und daß das Vergehen eines Körpers
gleich dem Vertrocknen eines Blattes im Herbst ist und daß ein anderer
Körper an seine Stelle treten wird. Darum wußte er die Gelegenheiten
und Vorteile dieses Erdenlebens zu wenig zu würdigen.
Es war jedoch notwendig, daß er sich
der großen Wichtigkeit dieses konkreten Daseins voll bewußt
wurde, um aus ihm alles zu lernen, was zu lernen möglich war. So
lange er fühlte, daß er ein Bürger der Höheren Welten
ist und ganz bestimmt wußte, daß das physische Leben nur ein
kleiner Teil der realen Existenz ist, nahm er es nicht ernst genug. Er
bemühte sich nicht, die zahlreichen Gelegenheiten zum Wachstum wahrzunehmen,
die ihm einzig und allein die gegenwärtige Phase des Lebens bieten
kann. Er verbrachte seine Zeit, ohne die Hilfsquellen der Erde zu entwickeln,
wie es heute noch die Bewohner Indiens aus demselben Grunde tun (1909).
Die einzige Möglichkeit, den Menschen
zur Würdigung seiner konkreten physischen Existenz zu erwecken, war,
ihn für einige wenige Inkarnationen des Erinnerungsvermögens
an seine höhere, geistige Existenz zu berauben. Darum erhielt er
während seines Erdenlebens keine andere sichere Erkenntnis, als nur
jene, die das gegenwärtige physische Leben betrifft, und er wurde
auf diese Weise veranlaßt, es mit entsprechendem Ernst zu durchleben.
Vor der christlichen Religion gab es Religionen,
welche die Wiedergeburt und das Gesetz der Ursache und Wirkung lehrten.
Es kam aber die Zeit, in der die Kenntnis dieser Lehren für die Entwicklung
des Menschen nicht mehr förderlich war, und Unwissenheit darüber
wurde als ein Zeichen des Fortschritts angesehen. Dieses eine Erdenleben
sollte zur Hauptsache gemacht werden.
Darum finden wir, daß die christliche
Religion, wie sie öffentlich gelehrt wird, die Gesetze der Ursache
und Wir-
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kung nicht enthält. Und dennoch muß das Christentum,
da es die Religion der fortgeschrittensten Völker ist, auch die fortgeschrittenste
Religion sein. Durch die Ausschaltung dieser Lehre von den öffentlichen
Belehrungen wurde die materielle Welt von den angelsächsischen und
teutonischen Völkern erobert, die eben diese Phase zur höchsten
Entwicklung gebracht hatten.
Wie in jeder Epoche die Nahrung des Menschen
verändert oder ihr etwas neues hinzugefügt wurde, um den gegebenen
Bedingungen zu entsprechen und ihren Zweck zu erfüllen, so finden
wir zur Nahrung der vorigen Epoche ein neues Produkt hinzugefügt
- den WEIN. Man benötigte ihn wegen seines benebelnden Einflusses
auf das geistige Prinzip im Menschen, denn keine Religion konnte in und
aus sich selbst heraus den Menschen seine geistige Natur vergessen lassen
und in ihm das Gefühl erwecken, ein "Erdenwurm" zu sein. Die Religion
konnte ihn nicht glauben machen, daß "wir uns mit derselben Kraft
bewegen, mit der wir auch denken". Und es war in der Tat niemals beabsichtigt,
daß es jemals so weit kommen sollte.
Bis dahin war nur Wasser als Getränk
verwendet worden. Auch in den Tempelzeremonien hatte man nur Wasser verwendet.
Erst nach dem Untergang von Atlantis - eines Kontinents, der zwischen
Europa und Amerika an der Stelle des heutigen atlantischen Ozeans lag
- begannen die Menschen, die der Vernichtung entgangen waren, Wein anzubauen
und herzustellen, wie wir dies in der biblischen Geschichte von Noah finden.
Noah symbolisiert die Überlebenden der atlantischen Epoche, welche
der Kern der fünften Rasse und daher unsere Vorfahren wurden.
Das tätige Prinzip im Alkohol ist
ein "Geist". So wie die Menschheit der früheren Epochen solche Nahrungsmittel
genoß, die ihren Trägern am besten angepaßt waren, so
wurde in der fünften Epoche dieser Geist den früher zur Entwicklung
des Menschengeschlechts dienenden Nahrungsmitteln hinzugefügt. Er
wirkte auf den Geist des Menschen
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der fünften Epoche. Ihn vorübergehend lähmend,
brachte ihn dieser so zur Erkenntnis der richtigen Wertschätzung
und Eroberung der physischen Welt. Darum vergißt der Mensch der
gegenwärtigen Zeit seine geistige Heimat. Er hängt sich an diese
Lebensform - die er früher verachtete - mit der ganzen Zähigkeit,
geboren aus dem Gefühl, daß sie das einzig Vorhandene sei.
Er zieht zumindest die Gewißheit dieser Welt der Möglichkeit
eines Himmels vor, den er in seinem gegenwärtig benebelten Zustand
nicht erkennt.
In den Tempeln war bis dahin nur Wasser
verwendet worden, doch nun änderte sich auch das. "Bacchus" - ein
Gott des Weines - ersteht, und unter seiner Herrschaft vergessen die fortgeschrittenen
Völker, daß es ein höheres Leben gibt. Keiner, der dem
falschen Geist des Weines oder irgend eines alkoholischen Getränks
(dem Produkt der Gärung und des Verfalls) opfert, kann jemals etwas
von seinem Höheren Selbst - vom wahren Geist, der die Quelle allen
Lebens ist - wissen.
All' dies bereitete die Ankunft Christi
vor, und es ist von höchster Bedeutung, daß es seine erste
Handlung war, "Wasser in Wein zu verwandeln" (Ev. Joh. 2,11).
Im geheimen lehrte er seinen Jüngern
die Lehre von der Wiedergeburt. Er lehrte sie nicht nur in Worten, sondern
er nahm sie "auf den Berg". Das ist eine mystische Bezeichnung und bedeutet
eine Stätte der Einweihung. Im Laufe der Einweihung nahmen sie selbst
wahr, daß die Wiedergeburt eine Tatsache ist, denn Elias erschien
vor ihnen, und es wurde ihnen gesagt, daß er auch Johannes der Täufer
sei. Christus selbst hatte ihnen vorher in nicht mißzuverstehenden
Worten - als er von Johannes dem Täufer sprach - gesagt: "Das ist
Elias, der wiederkommen sollte." Er wiederholte das öfter bei der
Verklärungsszenerie: "Elias ist schon gekommen, aber sie erkannten
ihn nicht und haben mit ihm getan, was sie wollten." Und darauf folgend
heißt es, "daß sie begriffen, daß Er von Johannes dem
Täufer spreche" (Matth. 17, 12-13).
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Bei dieser Gelegenheit und auch bei den
Unterredungen über die Wiedergeburt sagten sie Ihm, daß einige
gedacht haben, Er sei Elias, und andere wieder, Er sei einer der Propheten,
der wiedergeboren sei. Er befahl ihnen, es "keinem Menschen zu sagen"
(Matth. 17,9; Luk. 9,21). Die Lehre sollte tausende von Jahren hindurch
eine esoterische bleiben und nur wenigen Pionieren bekannt sein, die sich
für dieses Wissen vorbereitet und zu dem Zustand der Entwicklung
erhoben hatten, in dem diese Wahrheiten den Menschen wieder bekannt sein
werden.
Daß Christus die Wiedergeburt und
das Gesetz der Ursache und Wirkung lehrte, wird wahrscheinlich an keiner
anderen Stelle so deutlich gezeigt, wie im Gleichnis vom Blindgeborenen.
Die Jünger fragten: "Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern,
daß er blind geboren ist?" (Joh. 9,2).
Hätte Christus nicht die Wiedergeburt
und das Gesetz der Ursache und Wirkung gelehrt, so wäre die natürliche
Antwort gewesen: "Unsinn! Wie kann ein Mensch gesündigt haben, ehe
er geboren wurde und zur Strafe Blindheit über sich gebracht haben."
Aber Christus antwortete anders. Er ist durch die Frage nicht überrascht,
noch behandelt er sie als ungewöhnlich. Er zeigt dadurch, daß
sie mit seinen Lehren in vollem Einklang steht. Er antwortete: "Es hat
weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern daß die
Werke Gottes offenbar würden an ihm."
Die orthodoxe Auslegung ist, daß
der Mann blind geboren wurde, damit Christus die Gelegenheit hatte, ein
Wunder zu tun und seine Kraft zu zeigen. Es wäre sonderbar, wenn
Gott - um seinen Ruhm zu vermehren - einen Menschen willkürlich zu
vielen Jahren der Blindheit verdammen würde, nur damit er eines Tages
seine Fähigkeiten "zur Schau stellen" könne. Einen Menschen,
der so handelte, würden wir als ein Ungeheuer an Grausamkeit ansehen.
Viel logischer ist die Annahme, daß
eine andere Erklärung möglich sei! Gewiß ist es unvernünftig,
Gott ein Benehmen
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beizumessen, das wir an einem Menschen in den stärksten
Ausdrücken verdammen würden. Christus unterscheidet zwischen
dem physisch blinden Körper des Menschen und dem innewohnenden Gott,
der sein Höheres Selbst ist.
Der dichte Körper hat keine Sünden
begangen. Der innewohnende Gott, das Höhere Selbst (dessen sich dieser
Mensch noch nicht bewußt war - d.Ü.), hat gewisse Handlungen
zugelassen, die sich in der Folge durch das besondere, ihm zugemessene
Gebrechen äußerten. Es ist kein überspannter Standpunkt,
den Menschen einen Gott zu nennen. Paulus sagt: "Wißt ihr nicht,
daß ihr Götter seid?" Und er bezieht sich auf den menschlichen
Leib als den "Tempel Gottes", den Tempel des innewohnenden Geistes.
Und schließlich, wenn auch die meisten
Menschen sich ihrer früheren Leben nicht erinnern, so gibt es einige,
die es tun, und alle könnten es wissen, vorausgesetzt, daß
sie dazu das erforderliche Leben führten. Aber dieses Wissen bedarf
großer Charakterstärke, denn es kann uns die Erkenntnis eines
unabwendbaren Schicksals bringen, das schwarz und düster über
uns hängt, um sich in einem furchtbaren Unheil zu äußern.
Die Natur hat das Vergangene und das Zukünftige gnädig vor uns
verborgen, damit wir unseren Seelenfrieden nicht durch das Vorgefühl
der uns erwartenden Schmerzen verlieren. Wenn wir uns höher entwickeln,
werden wir lernen, alle Erfahrungen des Lebens in gleicher Weise willkommen
zu heißen. Wir werden in allen Leiden die Folge vergangenen Unrechts
sehen und mit Dankbarkeit die Gelegenheiten begrüßen, durch
die es gesühnt und ausgetilgt werden kann. Denn wir wissen, daß
dann um so viel weniger zwischen uns und dem Tag der Befreiung vom Räderwerk
der Geburt und des Todes steht.
Stirbt ein Mensch in einem Leben als Kind,
so erinnert er sich dieser Inkarnation nicht selten im nächsten Leben,
denn
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Kinder unter 14 Jahren durchschreiten nicht den ganzen
Lebenskreislauf, der zur Erbauung einer vollständigen Zahl neuer
Träger erforderlich ist. Sie gehen einfach in die oberen Regionen
der Empfindungswelt ein und warten hier auf eine neue Verkörperung,
die gewöhnlich zwischen einem bis zu zwanzig Jahren nach dem Tod
eintritt. Wenn sie sich wiederverkörpern, so bringen sie den alten
Intellekt und Empfindungsleib mit sich, und wenn wir dem Geplauder der
Kinder zuhörten, so könnten wir manchmal solche Geschichten
wie die folgende entdecken und wiedergeben:
Eine bemerkenswerte Geschichte
Eines Tages kam in Santa Barbara - in Kalifornien
- ein Mann namens Roberts zu einem geschulten Hellseher, der auch Vorlesungen
über Theosophie hielt, und bat ihn in einem verblüffenden Fall
um Hilfe. Herr Roberts war am vorhergehenden Tag durch die Straßen
gegangen, als ein kleines dreijähriges Mädchen auf ihn zukam,
seine Arme um seine Knie legte und ihn mit Papa ansprach. Roberts war
entrüstet, denn er glaubte, daß jemand versuchen wollte, ihm
die Vaterschaft für das Kind aufzudrängen. Aber die Mutter des
Kindes, die ihm unmittelbar folgte, war ebenfalls empört und versuchte,
das Kind zu entfernen. Doch das Kind klammerte sich an ihn und bestand
darauf, daß er sein Vater sei. Wegen später zu berichtender
Umstände konnte R. den Vorfall nicht vergessen und suchte den Hellseher
auf, der ihn zum Haus des Kindes begleitete, wo das kleine Mädchen
sofort wieder auf Herrn R. zulief und ihn Papa nannte. Der Hellseher -
den ich X. nennen will - nahm das Kind zuerst zum Fenster, um zu beobachten,
ob die Iris des Auges sich zusammenziehen und ausdehnen würde, wenn
er sie dem Licht zu- oder abwandte. Dadurch wollte er vorerst feststellen,
ob ein anderes Wesen sich des Kindeskörpers bemächtigt habe,
denn das Auge ist das Fenster der Seele, und kein Wesen, das "Besessenheit"
verursacht hat, kann sich die Gewalt über das Auge sichern. Aber
Herr X. fand, daß das Kind normal war und ging nun dazu über,
die
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Kleine vorsichtig auszufragen. Nach einer geduldigen
Arbeit - die mit Unterbrechungen den ganzen Nachmittag in Anspruch nahm
- brachte sie folgende Geschichte hervor:
Sie hatte mit ihrem Papa - Herrn Roberts
- und einer anderen Mama in einem kleinen alleinstehenden Haus gelebt,
von dem aus man kein anderes Gebäude sehen konnte. Gleich beim Haus
floß ein kleiner Bach, an dem einige Blumen wuchsen (nach diesen
Worten lief sie hinaus und brachte ein paar Weidenkätzchen herein).
Über den Bach führte eine kleine Brücke, die zu Überschreiten
man ihr verbot, damit sie nicht ins Wasser falle. Eines Tages hatte ihr
Papa sie und ihre Mutter verlassen und war nicht mehr zurückgekehrt.
Als ihre Nahrungsmittel zu Ende gingen, legte sich ihre Mama auf's Bett
und wurde ganz still. Schließlich sagte sie ganz seltsam: "Dann
starb auch ich, aber ich starb nicht, sondern kam hierher."
Darauf erzählte Herr Roberts seine
Geschichte. Vor 18 Jahren lebte er in London, wo sein Vater ein Brauer
war. Er verliebte sich in eine Magd. Sein Vater wollte von der Verbindung
nichts wissen, so zog er - nachdem sie geheiratet hatten - nach Australien.
Hier ging er in den Busch und gründete eine kleine Farm, wo er eine
niedrige Hütte an einem Bach erbaute, geradeso wie das Kind sie beschrieben
hatte. Dort wurde ihnen eine Tochter geboren, und als sie ungefähr
zwei Jahre alt war, verließ er eines Tages das Haus, um in einiger
Entfernung Holz zu schlagen. Während dieser Arbeit kam ein Mann mit
einem Gewehr auf ihn zu und nahm ihn im Namen des Gesetzes wegen eines
Bankraubs gefangen, der sich in jener Nacht ereignet hatte, als Herr Roberts
England verließ. Der Beamte hatte ihn bis hierher verfolgt, da er
ihn für den gesuchten Verbrecher hielt. Herr Roberts bat um die Erlaubnis,
zu Frau und Kind zu gehen. Der Beamte jedoch hielt dies für eine
Falle, um ihn in die Hände von Komplizen auszuliefern. Deshalb verweigerte
er ihm diesen Wunsch und trieb ihn mit Gewalt zur Küste. Er wurde
nach England überstellt und vor Gericht gebracht, wo seine Unschuld
erwiesen wurde.
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Erst jetzt schenkten die Behörden
seinem unaufhörlichen Sprechen über Frau und Kind Beachtung,
die er in der wilden, einsamen Gegend dem Hungertod preisgegeben wußte.
So sandte man eine Expedition zur Hütte, die allerdings nur noch
die Skelette der Frau und des Kindes vorfand. Der Vater des Herrn Roberts
war mittlerweile gestorben und hatte ihn enterbt. Doch sein Bruder teilte
mit ihm, und er kam als gebrochener Mann nach Amerika.
Dann zeigte er einige Fotos von sich und
seiner Frau, die er auf den Rat des Herrn X. mit einer Anzahl anderer
Bilder vermischte und dem kleinen Mädchen vorlegte, das ohne Zögern
die Bilder ihrer angeblichen Eltern herausfand, obwohl sich das Aussehen
des Herrn Roberts auf den gezeigten Bildern von seiner jetzigen Erscheinung
vollkommen unterschied.
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