Die
Rosenkreuzer-Weltanschauung
oder
Mystisches Christentum

von Max Heindel

   Eine elementare Abhandlung über die vergangene Entwicklung, die gegenwärtige Zusammensetzung und die zukünftige Entfaltung des Menschen

 


    seine Botschaft und sein Auftrag
    Ein urteilsfähiger Intellekt
    Ein fühlendes Herz
    Ein gesunder Körper
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   Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, die fotomechanische Wiedergabe, sowie die Übersetzung in andere Sprachen bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung der Rosicrucian Fellowship.

   Dezember 1992 Neu überarbeitete und die derzeit einzig verfügbare autorisierte deutsche Übersetzung der amerikanischen Originalfassung mit dem Titel: "The Rosicrucian Cosmo-Conception".

   Dies ist eine ungekürzte, vollständige, jedoch limitierte Studienausgabe, da die Übersetzung noch weiter bearbeitet wird. Interressenten für dieses Werk und Freunde mögen sich bitte an die obenstehende Anschrift der Fellowship oder an die am Ende des Buches beigefügte Adresse wenden.

   Diese Studienausgabe ist nicht im Handel erhältlich.

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Credo oder Christus

    Kein Mensch liebt Gott, der seinesgleichen haßt,
    Der seiner Brüder Herz und Seele tritt.
    Wer ihren Geist in Höllenfesseln faßt,
    Naht sich der Menschheit Ziel mit keinem Schritt.

    Gott schenkte Segen jeder Religion
    Und wies den Weg zur Wahrheit und zum Licht
    Durch Christus, seinen eingebor'nen Sohn:
    Um Sünde, Gram und Kampf Er Frieden flicht.

    Den Welt-Geist sandte sein erhab'nes Wort
    Zu allen Kirchen, nicht nur einer, hin.
    Die Flammenzung' am pfingstlich heil'gen Ort
    Jedes Apostels frommes Haupt umschien.

    Seither kämpft Mensch mit Mensch in Geiergier
    Um Sinn und Deutung nur von leeren Namen.
    Das Dogma, das Bekenntnis ist Brevier,
    Und einer schickt den andern in die Flammen.

    Ist Christ nicht Einheit? Fand denn am Kreuz den Tod
    Zur Welterrettung Kephas, Paulus unter Schmerzen?
    Warum tut hier in allem Teilung not?
    Faßt doch die Liebe Christi alle uns're Herzen!

    Nicht Grenzen kennt des Heilands zarte Liebe,
    Gezogen durch des Credos starren Wall.
    Daß Ihm des Vaters Teil als Eigen bliebe,
    Umschlingt Er liebevoll das Weltenall.

    Nehmt Ihn beim Wort und laßt durch kein Bekenntnis
    Das Allumfassen eures Glaubens trüben.
    Die eine Wahrheit sei euch heiligste Erkenntnis:
    So wie euch selbst sollt ihr den Bruder lieben!

    Nur eines tut zu wissen not der Welt,
    Nur ein Weg führt zum Himmel allezeit,
    Ein Balsam nur zum Wohl der Menschheit fehlt:
    Die Nächstenliebe ist's, die Menschlichkeit.

      --Max Heindel

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Ein Wort an die Weisen

Der Begründer der christlichen Religion sprach eine okkulte Wahrheit aus, als er sagte: "Wer das Reich Gottes nicht empfängt, wie ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen." (Mark. 10,15) Alle Okkultisten erkennen die weittragende Wichtigkeit dieser Lehre Christi an und bemühen sich, Tag für Tag danach zu "leben". Wenn der Welt eine neue Philosophie gegeben wird, so kommen verschiedene Menschen ihr auf verschiedene Weise entgegen.

   Der eine greift jede neue philosophische Bemühung begierig auf, um festzustellen, wie weit sie seine eigenen Ideen stützt. Ihm ist die Philosophie an sich weniger wichtig. Ihr Hauptwert liegt für ihn in der Rechtfertigung seiner eigenen Ideen. Wenn das Werk in dieser Hinsicht seinen Erwartungen entspricht, so nimmt er es begeistert auf und hängt ihm in gedankenloser Parteinahme an, wenn nicht wird er es wahrscheinlich mit Widerwillen und Enttäuschung beiseite legen, und es wird ihm sein, als hätte der Autor ihm ein Unrecht getan.

   Der andere wieder nimmt sofort eine skeptische Haltung an, wenn er entdeckt, daß das Werk einiges enthält, wovon er bisher weder hörte noch las, worüber er auch nicht nachdachte. Vermutlich würde er die Anschuldigung, daß seine geistige Haltung der Gipfel der Selbstzufriedenheit und Unduldsamkeit sei, als im höchsten Grad ungerecht zurückweisen. Und doch ist es so, und eben dadurch verschließt er sich gegen Wahrheiten, die vielleicht in dem wahllos Zurückgewiesenen verborgen sind. Beide aber stehen sich selbst im Licht. "Fixe" Ideen machen sie für die Strahlen der Wahrheit unempfänglich.

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"Ein kleines Kind" ist in dieser Beziehung ganz das Gegenteil von dem Erwachsenen. Es ist nicht von einem überwältigenden Gefühl überlegenen Wissens durchdrungen, noch fühlt es sich verpflichtet, weise zu scheinen und seine Unwissenheit über irgend einen Gegenstand durch ein Lächeln oder eine Grimasse zu verbergen. Es ist offen unwissend, nicht gefesselt durch vorgefaßte Meinungen und daher außerordentlich gelehrig. Es nimmt alles mit dem schönen Vertrauen auf, das wir "Kinderglauben" genannt haben und in dem kein Schatten eines Zweifels liegt; in diesem Glauben behält das Kind die Lehre, bis sie bewiesen oder entkräftet wird.

   In allen okkulten Schulen lernt der Schüler als erstes, wenn er eine neue Lehre erhält, alle Vorurteile zu vergessen. Er lernt, weder der Vorliebe noch dem Vorurteil die Herrschaft zu überlassen, sondern den Intellekt (mind) in einer ruhigen, würdevollen Erwartung zu halten. So wie uns die Skepsis höchst wirksam gegen die Wahrheit blind macht, so ermöglicht es diese ruhige, vertrauensvolle Haltung des Intellekts der Intuition oder der "Belehrung von innen", sich von der Wahrheit zu überzeugen. Das ist der einzige Weg zur Pflege einer vollkommen sicheren Wahrnehmung der Wahrheit.

   Niemand verlangt vom Schüler, ohne weiteres zu glauben, daß ein von ihm als weiß erkannter Gegenstand in Wirklichkeit schwarz sei, wenn man ihm gegenüber solches behauptet; aber er muß eine geistige Haltung pflegen, die "gläubig alle Dinge" als möglich gelten läßt. Dies wird es ihm ermöglichen, zeitweilig sogar die sogenannten "anerkannten Tatsachen" beiseite zu legen, um nachforschen zu können, ob es nicht vielleicht einen anderen, von ihm bisher unbemerkten, Gesichtspunkt gibt, von dem aus betrachtet der angeführte Gegenstand tatsächlich schwarz erscheint. Und niemals wird er es wagen, irgend etwas als eine "anerkannte Tatsache" anzusehen, denn ihm ist es völlig klar, wie wichtig es ist, den Intellekt in dem beweglichen Zustand der Anpassungsfähigkeit zu erhalten, der das kleine Kind charakterisiert. Er fühlt in jeder Fiber, daß "wir gegenwärtig durch ein Glas schauen und trübe sehen", und wie Ajax ist er

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immer auf dem Sprung, sich sehnend nach "Licht, mehr Licht"!

   Der große Vorteil einer solchen geistigen Haltung bei der Erforschung eines gegebenen Gegenstandes, Dinges oder Gedankens liegt auf der Hand. Feststellungen, die endgültig und unversöhnlich widersprechend erscheinen und die den Vertretern beider Seiten einen sehr großen Aufwand von Gefühl gekostet haben, können vielleicht doch zu vollständiger Versöhnung führen, wie es ein Beispiel in diesem Buch zeigt.

   Das Band der Übereinstimmung wird nur durch einen offenen Intellekt entdeckt, und wenn das vorliegende Werk auch von anderen abweichen mag, so erhofft der Verfasser dennoch ein unparteiisches Anhören als die Grundlage nachfolgender Beurteilung. Wird das Buch "gewogen und als zu leicht befunden", so wird der Verfasser sich nicht beklagen. Er fürchtet nur ein voreiliges und zu leichtes Urteil, das auf einer Unkenntnis des von ihm vertretenen Systems beruht, zu hören, weil eine unparteiische Kritik versagt wurde. Er möchte außerdem klarstellen, daß eine Meinung dessen, der sie äußert, auf Kenntnis beruhen muß!

   Als einen weiteren Grund, beim Aussprechen der Urteile vorsichtig zu sein, führen wir an, daß es vielen sehr schwer fällt, eine hastig ausgesprochene Meinung zurückzuziehen. Daher wird der Leser gebeten, alle Äußerungen des Lobs oder Tadels zurückzuhalten, bis das Studium des Werkes ihn vernünftigerweise von dessen Wert oder Mangelhaftigkeit überzeugt hat.

   Die Rosenkreuzer-Weltanschauung ist nicht dogmatisch, sie wendet sich auch an keine andere Autorität als an die Vernunft des Lernenden. Sie ist nicht polemisch; sie wird aber in der Hoffnung herausgegeben, daß sie zur Klärung einiger Schwierigkeiten beitragen möge, die sich in der Vergangenheit des Intellekts von Studierenden der tieferen Philosophie bemächtigt haben. Um ernsthaftes Mißverstehen zu vermeiden, wird der Schüler eindringlich darauf aufmerksam gemacht, daß keine unfehlbare Offenbarung über

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diesen komplizierten Gegenstand - der alles unter und auch über der Sonne einschließt - möglich ist.

   Eine unfehlbare Darstellung würde Allwissenheit des Ver- fassers voraussetzen, und selbst die Älteren Brüder sagen, daß sie manchmal in ihrem Urteil einen Fehler finden; daher gibt es kein Werk, daß das letzte Wort über die Welt-Mysterien spricht, und der Verfasser gibt nichts als die elementarsten Lehren der Rosenkreuzer wieder.

   Die Rosenkreuzer-Bruderschaft hat die weitreichendste und logischste Auffassung über das Weltmysterium von allen, die dem Verfasser in den vielen Jahren, während denen er sich ausschließlich diesem Gegenstand widmete, zur Kenntnis gekommen sind. Soweit es ihm möglich war, selbst zu forschen, hat er ihre Lehren in Übereinstimmung mit ihm bekannten Tatsachen gefunden. Und doch ist er überzeugt, daß auch Die Rosenkreuzer-Weltanschauung noch weit davon entfernt ist, das letzte Wort über diesen Gegenstand zu sprechen; daß sich mit unserem Weiterschreiten größere Ausblicke auf die Wahrheit eröffnen, und uns viele Dinge zugänglich werden, die wir jetzt "durch ein Glas und trübe sehen". Gleichzeitig glaubt er aber fest daran, daß alle philosophischen Systeme der Zukunft denselben Hauptlinien folgen werden, denn sie scheinen absolut wahr zu sein.

   Aus dem eben Gesagten ersieht man, daß der Verfasser dieses Buch nicht für das Alpha und Omega, nicht für das letzte Wort über das esoterische Wissen hält, und obschon es den Namen: "Die Rosenkreuzer-Weltanschauung" trägt, möchte der Autor doch sehr betonen, daß sie nicht als ein Glaube zu verstehen ist, der den Rosenkreuzern ein für allemal durch den Begründer des Ordens oder sonst jemanden überliefert wurde. Es sei nochmals eindringlich betont, daß dieses Werk nur das enthält, was sein Verfasser von den Lehren der Rosenkreuzer, das Weltmysterium betreffend, verstand, und was durch seine persönlichen Forschungen in den inneren Welten, bezüglich des vorgeburtlichen Zustandes und des Zustandes nach dem biologischen Tod des Menschen, bestärkt wird. Der Verfasser weiß sehr gut, welche

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Verantwortung jener auf sich nimmt, der wissentlich oder unwissentlich andere irreführt und er wünscht, soweit er kann, sich gegen diese Möglichkeit zu schützen und auch andere davor zu bewahren, aus Unachtsamkeit irrezugehen.

   Was dieses Werk lehrt, möge daher vom Leser nach seiner eigenen Einsicht angenommen oder abgelehnt werden. Aller Fleiß ist auf den Versuch angewandt worden, die Lehre klar und verständlich zu machen, äußerste Sorgfalt ist verwendet worden, sie in solche Worte zu kleiden, die am leichtesten zu verstehen sind. Aus diesem Grund ist durchgehend immer nur ein Ausdruck gewählt worden, um einen Begriff wiederzugeben. Dasselbe Wort wird dieselbe Bedeutung haben, wo immer es angewandt wird. Wenn irgendein Wort, das eine Idee vermitteln soll, zuerst gebracht wird, so gibt der Verfasser die klarste Definition, die ihm möglich ist. Es wurden nur bekannte Ausdrücke und die einfachste Sprache angewandt. Der Verfasser war immer bestrebt, so genaue und bestimmte Erklärungen über den zu behandelnden Gegenstand zu geben, wie es ihm möglich war, und überdies alle Doppelsinnigkeiten auszuschalten, um ein klares Bild zu vermitteln. Wie weit ihm dies gelungen ist, muß der Beurteilung des Lesers überlassen bleiben. Aber ebenso, wie er keine Mühe gescheut hat, die Lehre zu vermitteln, fühlt er auch die Verpflichtung, sich gegen die Möglichkeit zu verwahren, daß dieses Werk als endgültige Feststellung der Rosenkreuzerlehren angesehen wird. Eine Nichtbeachtung dieser Vorsichtsmaßregel könnte diesem Werk im Intellekt einiger Schüler ungebührendes Gewicht geben. Das wäre weder der Bruderschaft noch dem Leser gegenüber gerecht. Denn es würde von der Absicht zeugen, die Verantwortung für die Fehler, die hier - wie in allen menschlichen Werken - erscheinen müssen, auf die Bruderschaft abzuwälzen, daher diese Warnung.

   Immerhin ist es eine bemerkenswerte Tatsache, daß während der vier Jahre, die seit der Niederschrift des vorstehenden Absatzes (1909) verflossen sind, meine Forschungen alle in diesem Buch enthaltenen Lehren bestätigen und bekräftigen,

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so daß ich heute von der Wahrheit dieser Lehren inniger überzeugt bin, als zu jener Zeit, da dieses Buch geschrieben wurde. Neue Tatsachen haben jene in der ersten Auflage enthaltenen Lehren entwickelt und erweitert, und diese werden folgerichtig in der zweiten und dritten Auflage hinzugefügt. Aber sogar seit die dritte amerikanische Auflage erschien, wurden neue und wichtige Entdeckungen gemacht, die man in der vorliegenden deutschen Übersetzung finden wird.

   Zum Schluß dieses Vorwortes ergreife ich die Gelegenheit, die Übersetzungsarbeit zu würdigen, die ich durchgesehen und in bezug auf die Fachausdrücke verbessert habe, so daß dieselben Ausdrücke angewandt sind, welche mir ursprünglich von den Älteren Brüdern in Deutschland - denen ich diese Erkenntnisse verdanke - überliefert wurden. Ich habe auch das Bedürfnis, der Übersetzerin für ihre schöne Wiedergabe der Gedichte zu danken; sie hat den Geist wie auch die Worte und den Rhythmus beibehalten, eine schwer zu vollendende Kunst.

  -- Max Heindel

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INHALTSVERZEICHNIS

ABSCHNITT 1
Die gegenwärtige Zusammensetzung des Menschen und die Methode seiner Entwicklung

1. Die sichtbaren und die unsichtbaren Welten - [seite] 24

2. Die vier Reiche - 56

3. Der Mensch und die Methode der Entwicklung: Lebenstätig- keiten, Gedächtnis und Seelenwachstum - 87

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4. Wiedergeburt und das Gesetz der Ursache und Wirkung - 147

ABSCHNITT 2

Kosmogenesis und Anthropogenesis

5. Die Beziehung des Menschen zu Gott - 177

6. Der Entwicklungsplan - 183

7. Der Pfad der Entwicklung - 194

8. Die Arbeit der Evolution - 201

9. Nachzügler und Neuhinzukommende - 223

10. Die Erdperiode - 233

11. Die Genesis und die Evolution unseres Sonnensystems - 246

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12. Die Evolution auf der Erde - 261

13. Zurück zur Bibel - 308

14. Okkulte Analyse der Genesis - 317

ABSCHNITT 3

Die zukünftige Entwicklung des Menschen und die Einweihung

15. Christus und Seine Sendung - 367

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16. Zukünftige Entwicklung und Einweihung - 411

17. Die Methode, Kenntnisse aus erster Hand zu erwerben

18. Die Struktur der Erde: Und Vulkanausbrüche - 498

19. Christian Rosenkreuz und der Orden der Rosenkreuzer - 515

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ABSCHNITT 1

Die gegenwärtige Zusammensetzung des Menschen und die Methode seiner Entwicklung

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Die vier Reiche, Diagramm A

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EINFÜHRUNG

   Die westliche Welt ist ohne Zweifel die Vorhut der menschlichen Rasse. Aus Gründen, welche in den folgenden Seiten eingehend erörtert werden sollen, hält der Rosenkreuzer es für gewiß, daß weder Judentum noch "populäres Christentum", sondern das wahre esoterische Christentum zur Weltreligion bestimmt ist.

   Buddha, der Große, der Erleuchtete, der Erhabene, kann "das Licht Asiens" sein, aber Christus wird als "das Licht der Welt" anerkannt werden. So wie die Sonne den hellsten Stern des Himmels überstrahlt, wie sie die tiefste Finsternis durchdringt und allen Wesen Leben und Licht verleiht, so wird - und in keiner allzu fernen Zukunft - die wahre Religion des Christus alle anderen Religionen zum ewigen Wohl der Menschheit aufheben und ablösen.

   In unserer gegenwärtigen Zivilisation gähnt die Kluft zwischen Intellekt und Herz tief und weit, und je mehr der Geist im Reich der Wissenschaft von einer Entdeckung zur anderen fliegt, vertieft sich der Abgrund immer mehr, wobei das Herz weiter und weiter zurück bleibt. Der Intellekt fordert laut. Nur eine handgreifliche Erklärung des Menschen und seiner Mitgeschöpfe, welche die Träger der Welt der Erscheinungen sind, kann ihn befriedigen. Das Herz fühlt instinktiv, daß es etwas Größeres gibt. Es empfindet, daß seine Gefühle eine höhere Wahrheit bergen, als sie der Intellekt allein geben kann. Wie gern würde die menschliche Seele in ätherischen Höhen der Intuition weilen, wie gern sich im ewigen Quell des geistigen Lichtes, der himmlischen Liebe, baden. Aber die modernen wissenschaftlichen An- schauungen haben ihr die Flügel beschnitten, sie trauert beraubt und stumm; unbefriedigtes Sehnen nagt an ihren Trieben wie der Geier an der Leber des Prometheus.

   Ist dies nötig? Gibt es denn keine gemeinsame Grundlage, auf der Kopf und Herz sich begegnen können, auf der jedes

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dem anderen hilft und durch diese Hilfe erfolgreicher in der Suche nach ewiger Wahrheit wird und aus der jedem die gleiche Befriedigung zuteil wird?

   So wahr das vorhergeschaffene Licht das Auge schuf, um das Licht zu sehen, so wahr der ursprüngliche Trieb nach Wachstum den Verdauungs- und Assimilationsapparat zu seiner Befriedigung erschuf; so wahr der Gedanke früher bestand als das Gehirn und es zu seinem Ausdrucksmittel erbaute und noch erbaut; so wahr der Intellekt infolge seiner Überlegenheit vorauseilt und der Natur ihre Geheimnisse abringt; so wahr wird das Herz Mittel finden, seine Fesseln zu sprengen, um sein Sehnen zu stillen. Jetzt liegt es in den Ketten des herrschenden Gehirns. Der Tag wird kommen, an welchem es seine Kräfte sammelt, die Gitterstäbe zerbricht und eine größere Macht sein wird als der Intellekt es heute ist!

   Ebenso sicher ist, daß es in der Natur keinen Widerspruch geben kann. Darum müssen Herz und Intellekt fähig sein, sich zu vereinen. Diese gemeinsame Grundlage aufzuzeigen, ist der Zweck des vorliegenden Buches. Es zeigt, wo und wie der Intellekt, durch die Intuition des Herzens unterstützt, tiefer in die Geheimnisse des Seins eindringen kann, als jedes für sich allein dies vermöchte. Es zeigt, wie das Herz, durch die Vereinigung mit dem Intellekt, vor Fehltritten bewahrt werden kann; wie jedes vollen Spielraum hat, sich zu betätigen, keines dem andern Gewalt antut und Intellekt wie auch Herz befriedigt werden können.

   Erst wenn dieses Zusammenwirken erreicht und vervoll- kommnet ist, wird dem Menschen das höhere, wahre Verständnis seiner selbst und der Welt - von der er ein Teil ist - zukommen. Nur dadurch erlangt er einen starken Intellekt und ein großes Gemüt.

   Bei jeder Geburt scheint ein neues Leben unter uns auf- zutauchen. Wir sehen die kleine Gestalt, wie sie lebt und wächst und für Tage, Monate und Jahre ein Faktor in unserem Leben wird. Zuletzt kommt ein Tag, an dem die

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Form stirbt und sich auflöst. Jenes Leben, das aus unbekann- ten Reichen kam, ist in das unsichtbare Jenseits entschwunden, und wir fragen uns kummervoll: Woher kam es? Warum war es hier? Und wohin ist es gegangen?

   Über jede Schwelle wirft die Skelettgestalt des Todes seinen gefürchteten Schatten. Alt und jung, gesund und krank, reich und arm, alle - alle müssen gleicherweise in diesem Schatten schwinden, und durch alle Zeiten brach der qualvolle Schrei nach einer Lösung des Lebensrätsels, dem Rätsel vom Leben und Tod.

   Soweit die breite Masse der Menschheit in Betracht kommt, sind die drei großen Fragen: Woher sind wir gekommen? Warum sind wir hier, und wohin gehen wir? bis zum heutigen Tag unbeantwortet geblieben.

   Leider ist es eine allgemein verbreitete Meinung, daß man über diese Fragen, die Gegenstand des tiefsten menschlichen Interesses sind, nichts Bestimmtes wissen kann. Und dennoch ist eine solche Anschauung der größte Irrtum. Jeder - ohne Ausnahme - kann fähig werden, über diesen Gegenstand präzise Aufklärung aus erster Hand zu erwerben; jeder einzelne kann den Zustand des menschlichen Geistes vor der Geburt und nach dem Tod erforschen. Da gibt es weder Protektion, noch sind besondere Gaben erforderlich. In jedem von uns schlummert die Fähigkeit, alle diese Tatsachen zu erkennen, als Urerbschaft. Aber! - Ja, da ist ein "Aber", ein "ABER", das groß geschrieben werden muß. Wohl besitzen wir alle diese Fähigkeiten, doch in den meisten von uns sind sie noch latent, schlummernd. Beharrliche Anstrengungen sind nötig, sie zu erweken, und das scheint ein mächtiges Abschrekungsmittel zu sein. Könnte man diese Fähigkeiten "wach und bewußt" für Geld erwerben, so mancher würde sie selbst um einen hohen Preis besitzen wollen, um sich deren ungeheuren Vorteil über seine Mitmenschen zu sichern; wahrlich wenige jedoch sind bereit, ihr Leben so zu leben, wie sie jene einzig und allein erwecken können. Das geistige Erwachen ist die Frucht geduldiger und beharrlicher

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Anstrengungen. Es ist daher nicht käuflich zu erwerben und keine der üblichen Erfolgsstraßen führt zu ihm.

   Es ist eine bekannte Tatsache, daß man viel üben muß, um Klavierspielen zu erlernen und daß keiner Uhrmacher werden kann, der nicht seine Lehrlingsjahre hinter sich hat. Wenn aber die großen Dinge des Seins, die Angelegenheiten der Seele, des Todes und des Jenseits in Frage kommen, glauben viele ebensoviel zu wissen wie irgendein anderer und ein gleiches Recht zu haben, eine Meinung dazu zu äußern, obgleich sie vielleicht keine einzige Stunde über solche Fragen nachgedacht hatten.

   Keiner darf erwarten, daß eine solche Meinung ernste Beachtung findet, wenn ihn dazu nicht eingehende Studien und Betrachtungen berechtigen. In Gerichtssachen werden die aussagenden Sachverständigen erst auf ihre Kompetenz geprüft. Ihr Urteil hat kein Gewicht, wenn man sie nicht als durchaus in denjenigen Wissenszweig eingeweiht findet, über den sie aussagen sollen.

   Wenn sie aber durch Studien und Praxis berechtigt sind, sich als Sachverständige zu äußern, werden sie mit dem größten Respekt und voller Ehrerbietung angehört. Und wenn sich die Urteile zweier gleichberechtigter Fachleute gleichen, so wirkt die Äußerung jedes weiteren Fachmannes als ungemein überzeugend.

   Das unwiderlegliche Zeugnis eines Wissenden wiegt leicht die Aussagen von einem Dutzend, Hundert oder einer Million jener Menschen auf, welche davon nichts wissen. Denn eine Million mal nichts bleibt immer nichts. Dies gilt nicht nur von der Mathematik, sondern von jedem Gegenstand.

   Wie vorher erwähnt, erkennen wir diese Tatsachen willig an, sobald es sich um materielle Angelegenheiten handelt. Aber wenn Dinge außerhalb der Sinnenwelt, wenn die überphysische Welt zum Gegenstand der Besprechung wird,

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wenn die Beziehungen Gottes zum Menschen, die innersten Mysterien des unsterblichen göttlichen Funkens - leichthin Seele genannt - geprüft werden sollen, beansprucht jeder für seine Meinungen und Gedanken, die er sich über geistige Dinge zurechtgelegt hat, ebenso ernsthafte Berücksichtigung wie jener Weise, der durch ein Leben geduldigen und angestrengten Suchens sich Wissen dieser höheren Dinge erworben hat.

   Noch mehr, manche begnügen sich nicht einmal damit, das gleiche Recht für sich in Anspruch zu nehmen. Sie erdreisten sich sogar, den Worten des Weisen mit Hohn und Spott zu begegnen; sie fechten sein Zeugnis als Betrug an und, getragen von dem überlegenen Vertrauen tiefster Unwissenheit, beteuern sie, wenn sie nichts von solchen Dingen wüßten, sei es unmöglich, überhaupt etwas davon zu wissen.

   Wer seine Unwissenheit erkennt, hat den ersten Schritt zum Wissen getan.

   Jener Pfad ist nicht leicht, der zur Erlangung von Kenntnis- sen aus erster Hand führt. Nichts Wertvolles kommt jemals ohne beharrliche Anstrengung. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: besondere Gaben oder "Glück" gibt es nicht. Was man ist oder hat, ist der Erfolg von Anstrengungen. Was einem im Vergleich zu anderen fehlt, ist nur latent und kann durch geeignete Methoden entwickelt werden.

   Wollte der Leser, dem diese Idee so ganz aufgegangen ist, fragen, was er tun müßte, um Kenntnisse aus erster Hand zu erlangen, so enthülle ihm die folgende Geschichte die Idee, die der Kern der Esoterik ist.

   Ein Jüngling kam eines Tages zu einem Weisen und fragte ihn: "Meister, was muß ich tun, um weise zu werden?" Der Weise gewährte keine Antwort. Der Jüngling wiederholte die Frage noch mehrere Male mit dem gleichen Erfolg. Endlich verließ er den Weisen, kehrte aber am nächsten Tag mit

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derselben Frage zurück. Wieder erhielt er keine Antwort, und der Jüngling kam am dritten Tag abermals und wiederholte: "Meister, was muß ich tun, um weise zu werden?"

   Endlich wandte sich der Weise um und schritt zu einem nahen Fluß. Er stieg ins Wasser und winkte dem Jüngling, ihm zu folgen. Als sie tief genug im Wasser waren, nahm der Weise den Jüngling bei den Schultern und hielt ihn - so sehr er sich auch dagegen sträubte - unter Wasser. Endlich aber befreite er ihn, und als der Jüngling wieder zu Atem gekommen war, fragte ihn der Weise:

   "Sohn, was ersehntest du am stärksten, als du unter Wasser warst?"

   Der Jüngling erwiderte ohne zu zögern: "Luft! Luft, ich brauchte Luft!"

   "Hättest du nicht lieber Reichtum und Macht, Vergnügen oder Liebe gehabt, mein Sohn? Dachtest du an eines dersel- ben?" forschte der Weise.

   "Nein, Meister, ich begehrte Luft und dachte nur an Luft", kam sofort zur Antwort.

   "Wohlan", sagte der Weise, "wenn du weise werden willst, so mußt du die Weisheit mit derselben Inbrunst wünschen, mit der du dich eben nach Luft sehntest. Du mußt um sie kämpfen und jedes andere Lebensziel ausschließen. Sie muß bei Tag und bei Nacht dein erstes und einziges Ziel sein. Wenn du die Wahrheit mit dieser Inbrunst suchst, mein Sohn, so wirst du gewiß weise werden."

   Dies ist das erste und wichtigste Rüstzeug für jeden, der nach verborgener Weisheit strebt - ein Verlangen ohne Wanken, ein brennender Durst nach Erkenntnis, ein Eifer, der sich durch kein Hindernis besiegen läßt. Aber das Leitmotiv dieses Strebens nach okkulten Erkenntnissen muß der inbrünstige Wunsch sein, der ganzen Menschheit Segen zu bringen, sich selbst über der Arbeit für die anderen zu vergessen. Ohne solch ein Motiv ist das okkulte Wissen gefahrbringend.

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Wer nicht so vorbereitet ist, wem namentlich die letztgenannte Eigenschaft in einem gewissen Maße fehlt, der stürzt sich in Gefahr, sobald er irgendeinen Versuch macht, den steilen Pfad des Okkultismus zu betreten. Eine weitere Vorstufe zur Erwerbung der Erkenntnis aus erster Hand ist das Studium des Okkultismus aus zweiter Hand. Es bedarf gewisser okkulter Kräfte zur unmittelbaren Erforschung von Gebieten, die mit dem vorgeburtlichen Zustand des Menschen und dem seinem Tod folgenden zusammenhängen.

   Und doch darf keiner daran zweifeln, Erleuchtung über diesen Zustand erhalten zu können, nur weil seine okkulten Kräfte unentwickelt sind. Ein Mann kann über Afrika orientiert sein, weil er entweder selbst dort gereist ist oder Beschreibungen von Afrikareisenden gelesen hat. So kann er auch die überirdischen Reiche aufsuchen, wenn er sich selbst ausreichend dazu vorbereitet, oder er kann lernen, was andere Berufene bei ihrem Eindringen erfahren haben.

   Christus sagte: "Die Wahrheit soll euch frei machen", aber die Wahrheit wird nicht ein für allemal gefunden. Die Wahrheit ist ewig, und ewig muß auch das Forschen nach der Wahrheit sein. Der Okkultismus kennt keinen "allein seligmachenden Glauben". Es gibt Grundwahrheiten die bleiben, welche aber von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden können. Jede Perspektive ergibt einen anderen Anblick, welche die vorhergehende ergänzen kann. Darum muß man nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge sagen, daß es ein Erlangen der letzten Wahrheit nicht gibt.

   Wenn dieses Werk von anderen philosophischen Werken abweicht, so ist dies die Folge verschiedener Gesichtspunkte. Und jede Hochachtung sei den Schlüssen und den leitenden Ideen anderer Forscher gezollt. Der Autor hegt die ernstliche Hoffnung, daß das Studium der nachfolgenden Seiten dem Lernenden helfen möge, seine Ideen voller und abgerundeter zu gestalten, als sie es vordem waren.

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I. Die sichtbaren und die unsichtbaren Welten

   Der erste Schritt im Okkultismus ist das Studium der unsichtbaren Welten. Diese Welten werden von der Mehrzahl der Menschen nicht wahrgenommen, weil ihre höheren und feineren Sinne schlafen. Und nur durch diese kann die unsichtbare Welt wahrgenommen werden, so wie die sichtbare Welt um uns nur durch unsere physischen Sinne wahrgenommen werden kann. Die Mehrzahl der Menschen steht der überphysischen Welt ebenso gegenüber wie der Blindgeborene unserer Sinnenwelt; obwohl Licht und Farbe ihn umgeben, ist er unfähig sie wahrzunehmen. Für ihn sind sie nicht vorhanden und unverständlich, nur weil ihm der Gesichtssinn zu ihrer Wahrnehmung fehlt. Gegenstände kann er fühlen; sie sind für ihn Wirklichkeiten. Aber Licht und Farbe liegen außerhalb seines Erkenntnisvermögens.

   So ist auch der größte Teil der Menschheit. Die Menschen fühlen, sehen Gegenstände und hören Töne der physischen Welt, aber die anderen Welten, die der Hellseher die höheren Welten nennt, sind ihnen ebenso unverständlich wie dem Blinden die Farbe. Nun ist aber das Nichtsehen eines solchen Menschen durchaus kein Beweis gegen das Bestehen und die Wirklichkeit des Lichtes.

   Ebensowenig ist es ein Beweis für das Nichtbestehen der überphysischen Welten, nur weil sie die Mehrzahl der Menschen nicht wahrnehmen können. Wenn der Blinde sehend wird, so sieht er Licht und Farbe. Wenn die höheren Sinne der für die überphysischen Welten Blinden durch geeignete Methoden geöffnet werden, so werden auch sie fähig, Welten wahrzunehmen, deren Dasein ihnen jetzt verborgen ist.

   Während ein Teil der Menschheit den Fehler begeht, dem Vorhandensein überphysischer Welten ungläubig zu begeg-

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nen, verfallen auch viele in das entgegengesetzte Extrem, sobald sie vom Bestehen übersinnlicher Welten überzeugt sind. Sie bilden sich ein, daß dem Hellsehenden alle Wahrheit mit einem Schlag erschlossen ist und daß man auf einmal "alles" über die höheren Welten "weiß", sobald man "sehen" kann.

   Dies ist ein großer Irrtum. In Angelegenheiten des täg- lichen Lebens erkennen wir die Irrigkeit einer solchen Ansicht gern an. Wir würden nie annehmen, daß ein Blindgeborener, der sehend wird, auf einmal "alles" über die physische Welt "weiß". Ferner wissen wir sehr gut, daß selbst jene unter uns, die ihr Leben lang fähig waren, alle Dinge zu sehen, weit davon entfernt sind, eine umfassende Kenntnis von ihnen zu haben. Wir wissen, daß wir eingehender Studien und jahrelanger Übung bedürfen, um nur den unendlich kleinen Teil der Dinge, die unser tägliches Leben ausmachen, zu beherrschen. Und wenn wir den hermetischen Grundsatz - "wie oben, so unten" - umkehren, erfassen wir sogleich, daß dies in den anderen Welten ebenso sein muß.

   Ebenso wahr ist aber auch, daß es viel leichter ist, in den überphysischen Welten Kenntnisse zu erwerben, als in unserem gegenwärtigen dichten physischen Zustand. Doch es ist auch nicht so leicht, daß die Notwendigkeit eingehender Studien und die Möglichkeit, sich in den Beobachtungen zu irren, ausgeschlossen werden könnten. Zeugnisse von zuverlässigen und berufenen Beobachtern beweisen, daß man den Beobachtungen auf den anderen Plänen noch weit mehr Sorgfalt zuwenden muß, als jenen auf dem physischen Plan.

   Auch Hellseher müssen erst geschult werden, ehe ihr Zeug- nis von wirklichem Wert ist, und je weiter sie sich entwickeln, um so bescheidener werden sie in der Mitteilung des Erschauten, desto mehr Ehrfurcht hegen sie für die Lesearten der anderen, denn sie wissen, wie viel zu lernen es gibt und sind sich auch dessen bewußt, wie wenig der einzelne Forscher von allen Einzelheiten seiner Forschungen erfassen kann.

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Diese Wahrnehmung erklärt auch die Verschiedenheit der Darstellungen, die von oberflächlichen Menschen für ein Argument gegen das Bestehen der höheren Welten gehalten wird. Sie bestehen darauf, daß die Forscher gleichlautende Berichte zurückbringen müssen, sofern diese Welten wirklich bestehen. Ein Beispiel aus dem Tagesleben erweist ohne weiteres die Hinfälligkeit dieser Ansicht.

   Nehmen wir an, daß eine Zeitung zwanzig Berichterstatter in eine große Stadt entsendet mit dem Auftrag, über sie "zu berichten". Reporter sind geübte Beobachter oder sollten es wenigstens sein. Ihr Beruf ist es, alles zu sehen. Man erwartet von ihnen, daß sie die beste Beschreibung liefern. Dennoch sind von den zwanzig Darstellungen sicher nicht zwei vollkommen gleich. Viel sicherer hingegen ist, daß sie grundverschieden sind. Vielleicht enthalten sie einige gleiche allgemeine Leitzüge, im übrigen aber werden sie sich in der Art und Reichhaltigkeit der Beschreibung durchaus voneinander unterscheiden.

   Spricht es gegen das Bestehen der Stadt, daß die Berichte darüber auseinandergehen? Gewiß nicht. Jeder sah die Stadt von seinem besonderen Gesichtspunkt aus. Das sagt bereits alles. Statt daß man sich durch die verschiedenartigen Berichte verwirren und entmutigen läßt, täte man gut, anzunehmen, daß eine Zusammenfügung aller Berichte ein volleres und besseres Bild der Stadt ergäbe, als dies ein einzelner Bericht mit Ausschluß aller anderen vermöge. Jede Darstellung würde die anderen abrunden und ergänzen.

   Dasselbe gilt auch für die Forscher in den höheren Welten. Jeder hat seine eigene Weise, die Dinge anzusehen und kann nur beschreiben, was er von seiner Perspektive aus sieht. Möge die Vorstellung jedes einzelnen immerhin von denen der anderen abweichen, vom persönlichen Standpunkt jedes Beobachters aus können alle gleich wahr sein.

   Es wird manchmal gefragt: "Warum diese Welten erfor- schen? Warum soll man sich nicht zur gegebenen Zeit nur

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mit einer Welt begnügen, warum nicht mit den Lehren zufrieden sein, welche die Gegenwart in der physischen Welt uns bietet? Und wenn es unsichtbare Welten gibt, warum warten wir dann nicht mit unseren Nachforschungen bis wir sie erreichen? 'Jedem Tag genügt seine Plage.' Warum im voraus die Mühen des folgenden auf uns nehmen?"

   Wenn wir schon mit Gewißheit wissen, daß wir früher oder später in ein fernes Land versetzt werden, in dem wir unter neuen, fremdartigen Bedingungen viele Jahre leben müssen, werden wir uns da nicht vernünftigerweise bemühen, alles, was über dieses Land bekannt ist, schon im voraus zu erlernen? Diese Kenntnisse werden uns die Anpassung an die neuen Bedingungen wesentlich erleichtern.

   Es gibt nur eine Gewißheit im Leben, und diese ist der Tod. Wenn wir nun ins Jenseits hinübergehen und neuen Bedingungen begegnen, muß uns deren vorherige Kenntnis die größte Hilfe sein.

   Aber das ist noch nicht alles. Um die physische Welt der Wirkungen zu verstehen, ist es nötig, zuerst die überphysischen Welten zu verstehen, denn sie sind die Welten der Ursachen. Wir sehen rollende Straßenbahnen und wir hören das Ticken des Telegraphen (1909), aber die geheimnisvolle Kraft, welche beide in Bewegung setzt, bleibt uns verborgen. Wir sagen, es sei die Elektrizität, aber der Name gibt keine Erklärung. Wir erfahren nichts von der Kraft selbst, wir hören und sehen nur ihre Wirkungen.

   Bringen wir eine Schüssel mit kaltem Wasser in eine ge- nügend niedrige Temperatur, so werden sich sofort Eiskristalle bilden, und wir können den Vorgang beobachten. Die Gesetze, nach denen das Wasser kristallisiert, waren die ganze Zeit in Kraftlinien unsichtbar vorhanden, bis das Wasser gefror. Die schönen "Eisblumen" an den Fenstern sind sichtbare Erscheinungen der Ströme, die von den höheren Welten ausgehen und unaufhörlich auf uns einwirken. Den meisten von uns sind sie unbekannt. Dies jedoch vermindert ihre Wirksamkeit nicht.

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So sind die höheren Welten die Welten der Ursachen, die Welten der Kräfte; und wir sind tatsächlich nicht imstande, diese niedere Welt zu verstehen, ehe wir die anderen nicht kennen und uns über die Kräfte und Ursachen klar werden, von denen alle grobstofflichen Dinge nur die Wirkungen sind.

   Was nun die Wirklichkeit dieser Welten anbelangt, so erscheinen diese für die meisten Menschen wie Spiegelungen oder sogar noch weniger körperlich und im Vergleich mit der physischen Welt wirklicher und die Gegenstände darin dauernder und weniger zerstörbar, als die der physischen Welt. Ein Beispiel wird dies sofort erläutern.

   Kein Architekt beginnt einen Bau, indem er Material kauft und die Werkleute Stein auf Stein kunterbunt türmen läßt, ohne einen Leitgedanken oder einen Plan. Vorerst "denkt er das Bauwerk aus". Nach und nach gewinnt es in seinem Intellekt Gestalt und endlich steht ein kleines Bild des fertigen Hauses vor seinem geistigen Auge - die Gedankenform des Hauses.

   Niemand sieht dieses Haus außer dem Architekten. Er bringt es nun sichtbar aufs Papier. Er zeichnet die Pläne, und nach diesem sichtbaren Bild der Gedankenform setzen nun die Handwerksleute das Haus aus Holz, Eisen oder Steinen zusammen, genau wie es jene vom Architekten geschaffene Gedankenform vorschreibt.

   So wird die Gedankenform zur materiellen Wirklichkeit. Der Materialist wird behaupten, daß diese viel wirklicher, viel dauernder und viel körperlicher sei, als das Urbild im Intellekt des Architekten. Machen wir die Probe. Das Haus konnte ohne die Gedankenform gar nicht gebaut werden. Das stoffliche Ding kann durch Dynamit, Erdbeben, Feuer oder Zerfall zugrunde gehen, aber das gedankliche Urbild wird bleiben. Es wird so lange bestehen, wie der Architekt lebt, und man kann danach beliebig viele gleiche Häuser erstellen, wenn das eine zerstört wurde. Nicht einmal der Architekt selbst kann es vernichten. Selbst nach seinem Tod kann seine Gedankenform von denen wieder entdeckt werden, die

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berufen sind, im Gedächtnis der Natur zu lesen. Doch davon wird später die Rede sein. Nachdem wir uns nun von der Vernünftigkeit der Welten um und über uns überzeugt haben und uns über ihre Wirklichkeit im klaren sind, über ihre Dauer und die Nützlichkeit der Erkenntnisse, die sie betreffen, wollen wir sie nun streng und einzeln prüfen und mit der physischen Welt beginnen.


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